Wie ich durch den Nikolaus das Zweifeln lernte
Viele Kinder freuen sich heute über geschenkte Süßigkeiten, die – so heißt es – der Nikolaus gebracht hat. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg brachte der Nikolaus vor vielen Jahren etwas noch viel Besseres: den Zweifel. Ein Geschenk, für das sie noch heute dankbar ist.
Wann genau in unserer geistigen Entwicklung entscheidende Schritte geschehen, daran können wir uns meist nur selten erinnern. Doch manchmal gibt es Ereignisse, die unser Denken so radikal verändern, dass sie sich uns unauslöschlich einprägen. Ein solches Ereignis in meinem Leben war jenes, durch das ich das Zweifeln lernte. Ich erinnere mich nicht mehr genau an das Jahr, es muss irgendwann während meiner Kindergartenzeit Ende der 1970er Jahre gewesen sein. An den Tag erinnere ich mich dafür umso genauer: Es war der Nikolaustag.
Die am Nikolaustag begangenen Bräuche gehen bekanntlich zurück auf die religiösen Sagen um einen gewissen Nikolaus von Myra, im 4. Jahrhundert ein Bischof in Kleinasien, der nicht nur allerhand Wunder gewirkt, sondern auch sein Vermögen unter den Armen verteilt haben soll. Hieraus entwickelte sich der Brauch, dass eine als Nikolaus verkleidete Person am Namenstag des christlichen Heiligen Kinder mit Süßigkeiten beschenkt. In vielen Regionen kommt der Nikolaus nicht allein, sondern hat einen teuflisch anmutenden Begleiter an seiner Seite, der unter Namen wie „Knecht Rupprecht“ oder „Krampus“ bekannt ist. Er sorgt für die Bestrafung der bösen Kinder, denn Süßigkeiten bekommen selbstredend nur die guten und braven. Eine Art traditionelle „Good Cop/Bad Cop“-Nummer, wenn man so will.
Während meiner Kindheit wurde der Nikolausbrauch im mütterlichen Teil meiner Familie enthusiastisch zelebriert. Alle Familienmitglieder kamen alljährlich bei der Großmutter zu einem Treffen zusammen, in dessen Verlauf irgendwann der Nikolaus an der Tür klingelte und seinen strahlenden Auftritt hatte. Möglicherweise in Ermangelung weiterer Darsteller übernahm unser Familien-Nikolaus neben der belohnenden auch die bestrafende Rolle: Vor der versammelten und höchst amüsierten erwachsenen Verwandtschaft wurde jedes Kind einzeln vom Nikolaus am familiären Pranger bloßgestellt und ausgeschimpft für begangene Missetaten. Im Anschluss gab es dann, trotz aller Sünden, eine Tüte mit Süßigkeiten.
Als Kind habe ich mich vor dem Nikolaustag zu Tode gefürchtet. Es war nicht nur die erniedrigende verbale öffentliche Auspeitschung vor der Familie, vor der ich mich fürchtete, sondern der Nikolaus selbst. Denn dieser Nikolaus war ja gewissermaßen der strafende Gottvater höchstpersönlich – und doch mindestens ein äußerst lebendiger Gottesbeweis. Denn woher sollte er sonst von all meinen Verfehlungen wissen, wenn nicht durch einen allwissenden Gott, der mich ständig beobachtete und der all meine Verfehlungen mitbekommen hatte? Meine Angst vor dem alljährlichen Jüngsten Nikolaus-Gericht ging so weit, dass es mich vor Weihnachtsmärkten gruselte, denn dort lief schließlich immer irgendwo ein Nikolaus herum. Vor einem Nikolausevent im Kindergarten versteckte ich mich sogar einmal so lange auf der Toilette, dass die Kindergärtnerinnen wähnten, ich müsse krank sein. Und in gewisser Weise war ich das auch: Ich war krank vor Angst, wenn sich der Nikolaustag näherte.
Natürlich entging die Angst der Kinder vor unserem Familien-Nikolaus auch den Erwachsenen nicht. Doch genau diese kindliche Angst gehörte nun mal zum Genuss der Erwachsenen hinzu, weswegen es gegen die unausgesprochenen Regeln des Spiels gewesen wäre, die Kinder über die wahre Natur des Nikolaus aufzuklären. Nur mein Vater konnte das Elend irgendwann nicht mehr ertragen. Vor dem anstehenden Nikolaustreffen mit der Familie nahm er mich heimlich beiseite und verriet mir, dass der Nikolaus gar nicht echt sei. Vielmehr sei der unheimliche Besucher meine Oma, die sich als Nikolaus verkleidet habe. Natürlich glaubte ich ihm zuerst kein Wort. Wie sollte meine Oma denn der Nikolaus sein? Der war ja schließlich ein Mann, noch dazu mit dichtem weißen Rauschebart. Und was war mit all den Dingen, die der Nikolaus über mich wusste? Die, meinte mein Vater, habe er von meiner Mutter erfahren.
Ich fand das alles ziemlich unglaubwürdig, doch mein Vater empfahl mir, den von ihm geäußerten Sachverhalt empirisch zu überprüfen. Er wies mich darauf hin, dass meine Großmutter den Besuch des Nikolaus bisher stets verpasst hatte. Sozusagen ein Running Gag des alljährlichen familiären Nikolaustreffens, denn immer musste meine Großmutter kurz bevor der Nikolaus kam, etwas Dringendes erledigen und dafür in den Keller gehen oder zur Nachbarin oder zum Geschäft um die Ecke. Bei der Rückkehr war sie dann immer sehr enttäuscht, dass sie den Besuch des Heiligen Mannes schon wieder verpasst hatte. Sollte sie diesmal beim Eintreffen des Nikolaus wieder nicht anwesend sein, wäre also ein prüfender Blick auf das Gesicht hinter dem Rauschebart empfehlenswert.
Das Nikolaustreffen kam. Irgendwann verschwand meine Großmutter, um etwas Dringendes zu erledigen und kurz darauf klingelte der Nikolaus an der Tür. Ich besiegte meine Angst und sah ihm genau ins Gesicht. Und ich hörte zum ersten Mal genau auf seine Stimme. Und tatsächlich: Der Nikolaus war meine Großmutter. Es war so offensichtlich, dass ich mich fragte, warum ich das nicht schon längst erkannt hatte. Umso mehr, als es kein Geheimnis war, dass meine Großmutter einen Hang zur Schauspielerei hatte, den sie unter anderem als Zarah-Leander-Imitatorin bei bunten Abenden der Kirchengemeinde auslebte. Die Antwort ist einfach: Die Angst hatte mir die Sinne vernebelt.
Welche meiner kindlichen Verfehlungen der Nikolaus öffentlich vortrug, bekam ich an diesem Tag nicht mit. Zu sehr wurde ich von meinen Gefühlen übermannt. Einer Mischung aus Überraschung, Erleichterung und Hass auf all jene Erwachsenen im Raum, die seit Jahren das große Geheimnis für sich behielten, um sich an der Demütigung der Kinder ergötzen zu können. Nur meinem Vater war ich dankbar und bin es bis heute. Weil er mir durch seine Indiskretion die Welt des Zweifelns eröffnete. Bis heute reagiere ich mit skeptischem Hinterfragen auf Autoritäten und auf vermeintliche Wahrheiten. Ganz besonders auf jene, die versuchen, mir Angst zu machen. Übrigens ist auch der Hass von damals noch nicht ganz verflogen. Er überkommt mich immer wieder, wenn ich erlebe, dass Menschen – vor allem den kleinen – mit erfundenen Geschichten Angst eingejagt werden soll.
Dieser Artikel erschien zuerst beim humanistischen Pressedienst, wir danken für die Überlassung.
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