Provokateur ohne moralischen Kompass

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Nach nur 46 Sekunden im Ring gibt die italienische Boxerin Angela Carini den Kampf auf und sinkt unter Schmerzen und Tränen auf die Knie. Ihre Gegnerin in dieser Runde ist die algerische Boxerin Imane Khelif. Khelif wurde ein Jahr zuvor bei der Box-WM wegen erhöhter Werte des männlichen Sexualhormons Testosteron disqualifiziert. Bei der Olympiade durfte sie hingegen antreten.

War dieser Kampf in Paris fair? Ist es gerecht, wenn eine Sportlerin gegen eine Gegnerin mit mutmaßlichen physiologischen Vorteilen antreten muss? Ist es – umgekehrt – gerecht, wenn eine Sportlerin wegen erhöhter Testosteronwerte, für die sie nichts kann, vom Wettkampf ausgeschlossen wird? Und ist es richtig, solche Werte überhaupt zu messen?


Die Teilnahme von trans Frauen und Intersex-Frauen an sportlichen Wettkämpfen stellt die Welt des Sports vor ein moralisches Dilemma. Dass die Veranstalter hier Lösungen werden finden müssen, steht außer Frage. Sollte man etwa den Testosteronspiegel mit medizinischen Mitteln senken, wie Peter Kurz am Ende seines hpd-Artikels am 14. August 2024 vorschlägt? Das wäre ein vielleicht heftiger Eingriff in die Gesundheit und die Persönlichkeit einer Sportlerin.

Wäre die Idee von Rüdiger Weida in seinem Kommentar darunter praktikabel, Sportlerinnen wie Imane Khelif oder auch Lin Yu-ting aus Taiwan in der Gewichtsklasse antreten zu lassen, in der ihre Schlagstärken normal sind? Das klingt zunächst vernünftig. Aber ich bin kein Boxer, ja nicht einmal interessiert an diesem Sport. Und ich weiß auch viel zu wenig über Chromosomen oder die Wirkung von Hormonen, um hier ein qualifiziertes Urteil abgeben zu können.

Sehr berechtigt ist jedenfalls der Standpunkt von Andreas Gradert vom Humanistischen Verband Österreich (HVÖ), die Geschlechtstests im Sport seien grundsätzlich diskriminierend, weil sie auf Geschlechterstereotypen beruhten und es offenbar auch keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gibt, dass ein höherer Testosteronspiegel Frauen einen sportlichen Vorteil verschafft. Auch haben Tests und medizinische Interventionen aufgrund von Mutmaßungen über die Anatomie von Sportlerinnen schon Leben ruiniert, wie das Beispiel der Läuferin Annet Negesa aus Uganda zeigt. Das Internationale Olympische Komitee lehnt, folgt man dem Humanisten Gradert, Geschlechtstests zu Recht ab.

Tatsächlich liegen – darauf hat ein Kommentar unter dem hpd-Artikel hingewiesen – zu den beiden Boxerinnen, über ihre Chromosomen und ihre Testosteronwerte keine seriösen Informationen vor. Und das eigentlich auch völlig zu Recht. Es handelt sich nämlich um sehr persönliche, intime Informationen. Trotzdem meint Richard Dawkins – als Biologe eigentlich qualifiziert, im konkreten Fall aber ohne Belege – hier mit unbestrittener Gewissheit („XY undisputed“) die in Teilen nicht sachliche, sondern auch von Hasstiraden geprägte Debatte noch weiter anheizen zu müssen.

Er twitterte: „Two men, masquerading as women, are being allowed to box against real women in the Olympics.“ Das Attribut „provokativ“, welches Kurz hier für Dawkins verwendet, ist sehr zutreffend gewählt. Die provokative Art des kämpferischen Evolutionsbiologen ist sicherlich einer der Gründe für seine Bekanntheit und den Respekt, der ihm in säkularen Kreisen immer noch entgegengebracht wird.

Provokation, aber wozu?

Provokation ist wirkungsvoll. Provozieren konnte auch Diogenes von Sinope. Wir finden es witzig, wie er in der überlieferten Anekdote auf die Frage Alexanders des Großen, was dieser für ihn tun könne, antwortete: „Geh mir aus der Sonne!“. Provokation war dann später auch ein wesentliches Mittel der Philosophen der Aufklärung. Und Provokation ist immer wieder Instrument des gewaltfreien Widerstands.

Für Gandhi war es die Aufgabe eines Bürgerrechtlers, zu provozieren. Aber provozieren tut eben auch ein Björn Höcke. Provokation ist kein Gut für sich, zu provozieren ist keine an sich lobenswerte Tugend. Es kommt darauf an, wen man provoziert und warum man das tut. Bei Richard Dawkins scheint zunächst unklar, was ihn bewogen haben mag, eine von Gehässigkeiten, Gerüchten und Desinformationen gezeichnete Debatte noch weiter zu befeuern.

Ich habe mich in letzter Zeit auch wiederholt gefragt, warum sich manche Leute darüber den Kopf zerbrechen, auf welche Toilette trans Personen gehen. Welches Erkenntnisinteresse bewegt jemanden, der über solche Fragen nachdenkt? Was geht im Kopf von jemandem vor, der sich darüber echauffiert, dass trans Frauen in Frauengefängnissen Frauen vergewaltigen würden? Ich wurde im Freundeskreis tatsächlich damit konfrontiert.

Angeblich soll es in Schottland schon zu „massenhaft“ Schwangerschaften durch diese Bedrohung gekommen sein. Ich hatte es überprüft, um meinen Freund zu beruhigen. Es gibt nicht einen einzigen derartigen Vorfall. Seinen Anfang nahm die Geschichte offenbar mit dem Fall Isla Bryson; eine durchaus nachvollziehbare Befürchtung wurde zu einem bösartigen Fake aufgeblasen. Es grassieren üble Vorurteile gegenüber trans Personen, die zu widerlegen man kaum noch nachkommt. Eine Auflistung solcher Vorurteile und ihre Widerlegung findet man zum Beispiel bei Andreas Müller.

Das Phänomen, um das es hier geht, ist nicht die Provokation, sondern etwas, das man Transphobie nennt, eine irrationale Angst. Wenn man also der Frage nachgeht, warum jemand wie Richard Dawkins meint, sich ohne fundierte Grundlage zu einem Boxwettkampf zu Wort melden zu müssen, dann wird man schnell feststellen, dass er sich nicht das erste Mal diesbezüglich geäußert hat. Bereits 2021 fiel er durch einen derartigen Tweet auf, was die American Humanist Association (AHA) dazu veranlasste, ihm die 1996 verliehene Auszeichnung “Humanist of the Year” wieder abzuerkennen. Dawkins würde nicht länger die Werte der Organisation repräsentieren. Seine Äußerungen implizierten nämlich, so die AHA, dass trans Menschen „fraudulent“ (betrügerisch, arglistig, verlogen) seien.

Spielt Dawkins Transidentität herunter?

Richard Dawkins wurde 2023 an anderer Stelle vorgeworfen, er würde Transidentität herunterspielen bzw. verleugnen. Hintergrund ist eine Episode seines Podcasts „The Poetry of Reality“, wo er mit der Autorin Helen Joyce über den „Einfluss der Gender-Ideologie auf die Gesellschaft“ sprach. Dort vertrat er unter anderem die Meinung, dass Kinder und Jugendliche entscheiden würden, trans zu sein, weil sie von Gleichaltigen und Lehrern dazu ermuntert würden.

Als würden sich trans Menschen nach Lust und Laune entscheiden, ihr Geschlecht zu wechseln, weil es gerade im Trend liegt. Sicher ist es berechtigt, darauf hinzuweisen, dass die Unsicherheit bei manchen Jugendlichen in der Pubertät nicht in jedem Fall durch eine Transidentität erklärt werden kann. Das macht Transidentität aber nicht zu einer Erscheinung des Zeitgeistes. Es gibt sie schon immer.

Dass es biologische Ursachen haben kann, wenn die empfundene Geschlechtszugehörigkeit nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt, kommt dem Biologen Dawkins offenbar nicht in den Sinn. Einer meiner Freunde aus früheren Tagen, ein trans Mann, hatte mir damals erklärt, dass möglicherweise hormonelle Einflüsse während der Schwangerschaft einen Einfluss auf die Gehirnentwicklung haben. Vielleicht wissen Forscher das heute genauer. Ich bin fachlich nicht qualifiziert, dieser These näher nachzugehen. Aber ein Biologe sollte sich schon damit beschäftigen, vor allem, wenn er die Biologie als Maßstab für seine Urteile nimmt.

Die Biologie als alleinigen Maßstab anzulegen, ist aber auch ein Problem. Zu schnell gerät man als Anhänger eines naturalistischen Weltbildes in Gefahr, naturwissenschaftliche Erklärungen auf soziale und kulturelle Fragestellungen anzuwenden. Wer wie Dawkins der Ansicht ist, die geschlechtliche Identität einer Person lässt sich allein auf die Größe ihrer Gameten (Keimzellen: Eizellen und Spermien) reduzieren, ignoriert das oft jahrelange Leid der Betroffenen, die ihr wahres Ich verstecken müssen, bis sie sich offen zu dem bekennen können, was sie in ihrem Innersten sind.

Wo ist der moralische Kompass?

Richard Dawkins ist Naturwissenschaftler und hat in seinem Fach und als säkularer Aufklärer sicherlich Verdienste vorzuweisen. Sein Buch „Der Gotteswahn“ von 2006 hatte ich damals auch gelesen. In moralischen Fragen scheint ihm aber der Kompass abhandengekommen zu sein. Man kann gerne eine religiös begründete Ethik ablehnen, weil man Atheist und Naturalist ist. Aber was kommt dann? Weil sich aus deskriptiven Aussagen über die Natur keine normativen Aussagen ableiten lassen – siehe der auf den Aufklärungsphilosophen David Hume zurückgehende Sein-Sollen-Fehlschluss – fällt es schwer, moralische Maßstäbe zu finden.

Mitunter kann es dann passieren, dass ein Provokateur provoziert und sich dabei immer noch als Aufklärer sieht, obwohl er sich mittlerweile weltanschaulich in Gesellschaft mit Leuten befindet, die längst in eine obskure Menschenfeindlichkeit abgedriftet sind. Ist das ein „Rechtsaußen-Framing“, vor dem einer der Kommentatoren beim Humanistischen Pressedienst warnte? Nein. Um zur radikalen Rechten gezählt zu werden, gehört schon einiges mehr: Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Antipluralismus, das ganze üble Gerede von Remigration und so weiter. Das darf man Dawkins nicht anlasten.

Aber wer sich so äußert, wie Transfeinde es tun, sollte sich nicht wundern, wenn er mit ihnen in einem Atemzug genannt wird. Ich empfehle dazu abschließend einen aktuellen Vortrag von Andreas Müller: „Transphobie: Analyse eines Hasses. Müller erläutert die wichtigsten Grundbegriffe zum Thema, das Ziel der Transfeinde und ihre Strategie. Die Beispiele, auf die er sich bezieht, sind Helen Joyce, J. K. Rowling und Richard Dawkins.

Transphobie ist eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. In diesem Vortrag erklärt Andreas W. Müller, M. A. die wichtigsten Grundbegriffe, das Ziel der Transfeinde und die Strategie hinter dem Hass.

Bild von Helen Joyce und J. K. Rowling: J.K.Rowling | A celebration of sisterhood! Source: Helen Joyce, Twitter. #jkrowling | Instagram https://www.instagram.com/jkrowlingwe…

Helen Joyce über die Auslöschung von trans Personen als trans Personen: Helen Joyce Trans Elimination JK Rowling Helen Joyce Trans Elimination JK Rowling

Richard Dawkins über Sex via Gametengröße definiert: 1752403995174252724  

„Warum Richard Dawkins transphob ist“: Explaining why Richard Dawkins is transphobic and why the skeptic community should be aware of that. : r/skeptic (reddit.com) https://www.reddit.com/r/skeptic/comm…

Richard Dawkins interviewt Kathleen Stock: Kathleen Stock and Richard Dawkins Qu…  

Richard Dawkins interviewt Helen Joyce: “Trans: When Ideology Meets Reality” …  

A Complete Breakdown of the J.K. Rowling Transgender-Comments Controversy | Glamour https://www.glamour.com/story/a-compl…

The Witch Trials of J.K. Rowling: thefp.com/witchtrials https://www.thefp.com/witchtrials

J.K. Rowling’s New Friends (Belege für Rowlings Transphobie): JK Rowling’s New Friends  

Natalie Wynn (Contrapoints) über Rowling: J.K. Rowling | ContraPoints  

Mein Channel: @feuerbringer-magazin

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Andreas Dietz

Ich bin ein philosophischer Laie mit besonderem Interesse für die Philosophie der Antike und der Aufklärung, in diesem Zusammenhang skeptischer Denker und Gegner von Esoterik, Verschwörungstheorien, Pseudowissenschaften sowie religiösem und weltanschaulichem Fundamentalismus. Ich wurde als Kind der DDR nicht religiös erzogen, habe mir aber im Laufe der Jahre religionskundliches Wissen angeeignet, das mir nach einer ausgeprägten religionskritischen Phase irgendwann doch zu einem gewissen Verständnis für Bedeutung und Funktionen religiösen Glaubens verholfen hat – trotz der Absurdität vieler Glaubensinhalte. Ich bezeichne mich heute eher als Agnostiker denn als Atheist. Menschliches Erkenntnisvermögen ist begrenzt. Politisch bin ich nach wie vor der festen Überzeugung, dass Staat und Religion streng voneinander getrennt sein sollten.

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