Tobias Hürter | Das Zeitalter der Unschärfe
„Man kann die Welt nicht beobachten, ohne sie zu verändern“ – lautet einer der Kernsätze des Buches, das der Wissenschaftsjournalist und Mathematiker Tobias Hürter dem „goldenen Zeitalter der Physik“ widmet: Dem Zeitalter, das die Einsichten in die Welt sowie das Denken der Menschen und damit die Welt selbst veränderte; dem Zeitalter, das in ihrem glänzenden Teil zu vor 100 Jahren noch völlig unvorstellbaren Errungenschaften der Technik und Physik und in ihrem dunklen Teil zur Entwicklung und dem Einsatz der Atombombe führte.
Fesselnd und unterhaltsam aufbereitet, führt der Autor die Leserinnen und Leser anhand von 53 mit den jeweiligen Orten des Geschehens verbundenen Jahreszahlen von 1900 bis 1945 durch die Geschichte der großen physikalischen Entdeckungen, als deren Quintessenz die Physikerinnen und Physiker einsehen mussten, „…dass hinter den Begriffen und Theorien, durch die sie die Welt sahen, eine tiefere Wirklichkeit liegt, die so fremdartig auf sie wirkte, dass ein Streit darüber ausbrach, ob sich überhaupt noch von ‚Wirklichkeit’ sprechen lässt“.
Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit beleuchtet das Buch die großen Themen der Physik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verbunden mit dem Leben und Wirken der dahinterstehenden Personen. Es zeigt die klugen Köpfe hinter den bahnbrechenden Entdeckungen, es beschreibt die komplexen Beziehungen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen untereinander und es verdeutlicht das Menschliche, manchmal auch Allzumenschliche hinter der Genialität der Protagonisten. Dem Umstand, dass viele von ihnen Tagebücher führten und nahezu alle passionierte Briefschreiber waren, verdankt der Autor eine überaus günstige Quellenlage; sie ermöglicht ihm, ein umfassendes Bild der Persönlichkeiten und ihrer Aktivitäten zu vermitteln. Marie Curie, Planck, Einstein, Bor, Heisenberg, Born, Pauli, Dirac, Schrödinger, Lise Meitner und viele mehr werden mit ihrem (oftmals verzweifelten) Bemühen um Verstehen, mit ihren Kämpfen um tiefere Einsichten, mit ihren triumphalen Erfolgen, aber auch mit Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit, den Leserinnen und Lesern nahegebracht.
Mit fiktiven, aus den Tagebüchern abgeleiteten Dialogen gelingt es Tobias Hürter, die Art und Dringlichkeit der jeweils auftauchenden Probleme zwischen den Physiker*innen zu verdeutlichen und damit Authentizität und Spannung zu vermitteln. So z.B. mit Diskussionen zwischen Albert Einstein und Werner Heisenberg, oder mit dem berühmt gewordenen letzten Gespräch zwischen Niels Bohr und Heisenberg, das einen Anstoß zur Entwicklung der Atombombe bildete. Die politische Entwicklung in Deutschland ab 1933 führte zur Beendigung einer Zeit genial-produktiver Kraft der deutschen und internationalen Elite von Physiker*innen – hin zu einer Entwicklung, die in deprimierende Gegnerschaften, Exilantentum und Untergang mündete.
Populärwissenschaftliche Literatur soll neben breiter Wissensvermittlung Unterhaltung bieten und dazu auch spezielles Sachwissen vermitteln. Ersteres ist dem Autor im vorliegenden Buch gut gelungen, letzteres für Laien nur sehr eingeschränkt. Bedingt durch die Kompliziertheit der behandelten Materie gelingt es Tobias Hürter kaum, physikalischen Laien hochkomplexe Themen und mathematische Zusammenhänge, wie z.B. „die wellenmechanische kontra matrizenmechanische Interpretation der Quantenphysik“, oder Erwin Schrödingers Ausführungen (zusätzlich zur Aussage „eine der schönsten und wunderbarsten Gleichungen, die je ein menschlicher Geist ersann“), gut verständlich nahe zu bringen. Auch dort, wo er sich um höheres mathematisches Verstehen besonders bemüht, z.B. bei der von ihm als wunderbar eingestuften Gleichung von Dirac („sie ist so vollkommen, wie eine vom Himmel gefallene Marmorstatue“), werden die Erläuterungen wohl nur von ausgewiesenen Fachleuten, bzw. nur unter Zuhilfenahme spezieller Fachliteratur, voll verstanden werden; es empfiehlt sich, Zusatzwissen beizuziehen, um dem sachlich-fachlichen Inhalt des Buches zumindest einigermaßen folgen zu können.
Am Beispiel der „Heisenbergschen Unschärferelation“, die dem Buch den Namen gab, sei diese Problematik kurz dargestellt: Ab Mitte der 1920er Jahren ringen die Physiker, mit Niels Bohr und Werner Heisenberg an der Spitze, um eine gemeinsame Deutung der Quantenmechanik, die verbietet, gleichzeitig den Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens präzise festzustellen. Mit Hilfe neuer mathematischer Methoden (Matrizenmechanik) „stößt Heisenberg (1927) auf jene Beziehung zwischen Ungenauigkeit von Ort und Bewegung, die seither als der Kern der Quantenmechanik gilt: die *Unschärferelation*“. Extrem vereinfacht besagt sie, „dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Das bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Eigenschaften sind der Ort und Impuls“ (Wikipedia).
„Das Zeitalter der Unschärfe“ bietet interessierten Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, breit wissensvermittelnd, sehr gut lesbar, spannend unterhaltend, auch humorvoll, an der physikalisch-naturwissenschaftlichen Revolution der Jahre 1895 bis 1945 zumindest mit einem Grundverständnis teilzuhaben. Von der Begründung der Quantenphysik, über die Entdeckung des Atoms zur Relativitätstheorie und Quantenmechanik; von Max Planck, über Albert Einstein, Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Paul Dirac, Wolfgang Pauli zu Werner Heisenberg mit zahlreichen anderen gleichbedeutenden Forscherinnen und Forschern dazwischen. „…die Dispute, die sie damals über die Deutung ihrer Theorien ausfochten, sind bis heute nicht beigelegt. Die Einwände, die Einstein gegen die Quantenmechanik erhob, erheben auch heute noch skeptische Physikerinnen und Physiker. Diese Geschichte ist noch nicht vorbei“.
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