Philipp Gisbertz-Astolfi | Ethik des Krieges
Das Werk „Ethik des Krieges“ von Gisbertz-Astolfi, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen, stellt eine beachtenswerte Neuerscheinung im Bereich der philosophischen Literatur dar, die in keiner humanistischen Bibliothek fehlen sollte. Obwohl es als Lehrbuch für Studierende konzipiert ist, könnte es ein neues Standardwerk werden. Es bietet einen detaillierten Einblick in ethische Fragestellungen und in die mitunter stark abweichenden völkerrechtlichen Normen im Bereich der Kriegsführung. Kompakter und verständlicher könnte ein Werk zur Einführung in die Ethik des Krieges nicht sein. Angesichts der aktuellen Krise zwischen Russland und der Ukraine ist dieses Buch besonders relevant. Wer sich auf fachlich fundierte Weise zum Krieg ethisch äußern möchte, sollte es erwerben, da es zu überraschenden Erkenntnissen führt und zur Reflexion über eigene moralische Standpunkte anregt.
Die Ethik des Krieges umfasst die ethischen Normen bezüglich des Rechts auf Krieg (ius ad bellum), seiner Durchführung (ius in bello), dem Zeitpunkt, an dem ein Krieg beendet werden muss (ius ex bello) und wie eine ethisch vertretbare Nachkriegsordnung gestaltet werden soll (ius post bellum). Gisbertz-Astolfis Ziel war es, ein Buch über die Ethik des Krieges zu verfassen, nicht ein juristisches Werk zum Internationalen Kriegsrecht. Dennoch verweist der Autor auf geschickte Weise wiederholt auf das geltende Kriegsvölkerrecht. Zu Beginn dieser Rezension werden daher aus Gründen des besseren Verständnisses die zentralen Textstellen aus der Charta der Vereinten Nationen im gegenständlichen Kontext zusammengefasst – sowohl die Grundnorm (Art. 2 Nr. 4) als auch die Ausnahmeregelung (Art. 51):
„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. […]“
Soweit die wichtigsten Passagen des geltenden Kriegsvölkerrechts zur Frage, wann man Krieg führen darf. Doch nach der Lektüre des hervorragenden Buches von Gisbertz-Astolfi müssen sich die Leserinnen und Leser ernsthaft die Frage stellen, ob es ethisch verpönt, rechtfertigbar oder sogar geboten ist, dass Staaten im Widerspruch zum Völkerrecht Krieg führen.
Anhand des Kosovo-Konflikts im Jahre 1999 kann die Problemlage verdeutlicht werden: In den 90er Jahren wurden die Kosovo-Albaner unter dem serbischen Ministerpräsidenten Slobodan Milošević so lange massakriert, bis die NATO militärisch eingriff. Für die Aktion „Operation Allied Force“ hatte aber die NATO aufgrund der Blockade Russlands im UNO-Sicherheitsrat kein Mandat. Wir sind folglich mit einer philosophischen Frage an der Schnittstelle zum Völkerrecht konfrontiert, die im Jahr 1999 wie heute von aktueller Brisanz ist: Angesichts der Tatsache, dass im UNO-Sicherheitsrat eine lähmende Pattsituation eingetreten ist und er dadurch handlungsunfähig wurde, sind Staaten ethisch berechtigt oder verpflichtet, auch ohne UNO-Mandat einen „gerechten Krieg“ zu führen?
Dies ist nur eine von vielen ethischen Fragen, denen wir uns stellen müssen und die der Autor in seinem Buch eloquent ausformuliert und mittels Theorien zeitgenössischer Autorinnen und Autoren luzide erörtert. Dabei führt er uns immer wieder zu neuen Einsichten, die unsere Perspektiven erweitern und bisherige Standpunkte überdenken lassen.
Als letzte rechtliche Vorbemerkung sei noch vollständigkeitshalber erwähnt, dass das geschriebene Völkerrecht, bestehend aus Abkommen, Protokollen usw., aufgrund der Souveränität der Staaten nur dort verbindlich ist, wo es von den Staaten freiwillig angewendet wird. Ein Beispiel hierfür ist die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Kriegsverbrechen, die nur für Angehörige eines Staates gegeben ist, der das entsprechende Römische Statut unterzeichnet und ratifiziert hat, oder wenn das Verbrechen in einem solchen Staat begangen wurde. Von den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates haben drei Staaten (USA, Russland und China) das Statut nicht ratifiziert, was erbärmlich ist und aus Sicht des Rezensenten einen von vielen Gründen darstellt, warum die UNO grundlegend reformiert gehört.
Was ist ein Krieg?
Einleitend referiert Gisbertz-Astolfi in einer kurzen Begriffsgeschichte über die zentralen Stationen der philosophischen Auseinandersetzung zur Frage, was eigentlich als „Krieg“ zu verstehen ist. Dies ist keine bloße philosophische Begriffsspielerei, wie die Ausführungen zum Ende des Buches im Zusammenhang mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terrorismus” aufzeigen. Etwa wird diskutiert, ob die ethischen Normen, die auf Kombattant*innen angewendet werden, auch bei terroristischer Gewaltanwendung greifen (müssen). Auch versuchen Regierungen, wie es aktuell bei Russland zu sehen ist, die Anwendung des Kriegsvölkerrechts zu verhindern, indem sie den Begriff Krieg vermeiden und die förmliche Kriegserklärung unterlassen. Zu alldem verweist der Autor zu Recht darauf, dass das geltende internationale Recht nicht mehr auf den Begriff des „Krieges“, sondern auf „bewaffnete Konflikte“ abstellt.
Die philosophiegeschichtliche Betrachtung beginnt mit Heraklit, der den Krieg zwar nicht definierte, ihn jedoch als metaphysisches Prinzip des Wandels in der Welt verstand („Der Krieg ist der Vater aller Dinge“). Wir erfahren über Platon, dass dieser es ablehnte, den Kampf zwischen Griechen als Krieg („polemos“) zu bezeichnen. Einen Krieg konnte er sich nur gegen die Barbaren, den Feinden aller Griechen, vorstellen. Dadurch schuf er den Ursprung der Unterscheidung zwischen „Staatenkrieg” und „Bürgerkrieg“. Cicero lieferte möglicherweise die nachhaltigste Beschreibung des Krieges in der Geschichte der Philosophie. Für ihn war Krieg die Entscheidungssuche in einem Konflikt mit Mitteln der Gewalt im Rahmen der Politik. Cicero führte auch erstmals den Begriff des „gerechten Krieges” ein und vertrat die Ansicht, dass Angriffskriege grundsätzlich verboten sein sollten, was heute – mit Ausnahme der humanitären Intervention – als Grundnorm im geltenden Kriegsvölkerrecht festgeschrieben ist. Die Ansichten vieler anderer bekannten Philosophen wie Thomas von Aquin, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, John Locke, Samuel von Pufendorf, Rousseau, Immanuel Kant, Carl von Clausewitz werden ebenfalls in knapper und instruktiver Form im Studienbuch vorgestellt, können aber inhaltlich in einer Rezension nicht alle berücksichtigt werden.
Pazifismus und seine Kritiker
Humanist*innen setzen sich aus gutem Grund für gewaltlose Konfliktlösungen ein. Jeder Krieg ist eine Tragödie und bringt unermessliches Leid über die Menschen. Die Vertreter eines absoluten Pazifismus argumentieren, dass es ethisch geboten ist, stets den Frieden zu wählen. Sie argumentieren, dass Krieg im Widerspruch zu den fundamentalen moralischen Prinzipien steht, da unschuldige Menschen bei Kollateralschäden sterben müssen und eine gerechte Kriegsführung faktisch unmöglich ist. Daher behaupten sie, dass es niemals ein Recht auf Krieg geben kann, auch nicht auf einen Verteidigungskrieg. Eine andere Variante des Pazifismus, von Gisbertz-Astolfi als „kontingenter Pazifismus” bezeichnet, lehnt ebenfalls die Legitimität des Krieges ab, gesteht jedoch Ausnahmen zu (Stichworte: gerechter Krieg, humanitäre Intervention).
Gegen den unbedingten Pazifismus können gewichtige philosophische Einwände erhoben werden. Beispielsweise meint die britische Philosophin Elisabeth Anscombe, dass Pazifismus zu einem Wertungswiderspruch zwischen der Relevanz von Gewalttätern und Gewaltopfern führt. Indem man den Opfern nicht hilft, setzt man die Tötung und Verletzung Unschuldiger mit der Tötung und Verletzung Schuldiger gleich, was eine ethisch nicht zu rechtfertigende Ignoranz gegenüber dem Merkmal der Unschuld darstelle.
Ein rechtsethisches Argument gegen den Pazifismus besagt, dass die Anerkennung des Rechts des Menschen auf Leben, Unversehrtheit, Freiheit und Selbstbestimmung sowie auf ein Leben in seiner politischen und kulturellen Heimat impliziert, dass er sich bei einem Angriff auf dieses Recht verteidigen darf, da es sonst kein Recht wäre.
Gisbertz-Astolfi führt zutreffend aus, dass es nicht erforderlich ist, rigoroser Pazifist zu sein, um den Frieden als höchsten Wert zu befürworten. In der Geschichte der Philosophie waren die bedeutendsten Verfechter des Friedens keine absoluten Pazifisten. Der Autor nennt mehrere Theoretiker, darunter auch Immanuel Kant. Kant argumentierte, dass Staaten, da sie keiner übergeordneten Gerichtsbarkeit unterliegen, als letzten Ausweg den Krieg zur Beseitigung von Unrecht nutzen könnten. Jedoch müsse ein Krieg so geführt werden, dass ein späterer Friedensschluss möglich sei. Kant gilt mit seinen Ansichten als wegweisender Vorläufer des Völkerbunds bzw. der Vereinten Nationen und des Internationalen Strafgerichtshofs.
An späterer Stelle des Buches begegnet uns Kant nochmals zur Frage, ob Menschen ein ethisches Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen den eigenen Staat haben. Kant, ebenso wie Thomas Hobbes, lehnte ein solches Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen einen ungerechten Staat ab. Beide argumentierten, dass den Menschen die Fähigkeit fehle, ohne den Staat im Naturzustand moralisch zu handeln. Diese Ansicht wird später von vielen berühmten Philosophen, darunter John Locke und der Theologe Thomas von Aquin, nicht mehr geteilt. Es ist verlockend für den Leser zu spekulieren, ob Kant angesichts der Barbarei des Nazi-Regimes, das zu einem Völkermord an Teilen der eigenen Bevölkerung geführt hat, sein theoretisches Argumentarium revidiert hätte.
Derartige wissenschaftsferne Grübelei stellt Gisbertz-Astolfi im Lehrbuch selbstverständlich nicht an. Dafür erfahren wir in dem – leider aus Platzgründen zu kurz geratenen – Subkapitel „Revolution und Bürgerkrieg“ den aktuellen Stand des ethischen Diskurses. Erneut ist man als Laie überrascht, wie strittig und konträr die Positionen noch immer in dieser Frage sind. Es erweist sich wiederum, dass Ethik nicht wie die Naturwissenschaften erfassbar ist, sondern dem Ergebnis menschlicher Erkenntnis- und Entscheidungsfindung sowie Bewertungen unterliegt, die einem stetigen kulturellen Wandel unterzogen sind. Nach den Ausführungen von Gisbertz-Astolfi kreist die Diskussion der Fachwelt aktuell um die Frage, ob die Verletzung des Rechts auf politische Selbstbestimmung einen tödlichen Bürgerkrieg rechtfertigen kann oder nicht.
Ius ad bellum
Der absolute Pazifismus hat sich weder im Völkerrecht (siehe oben) noch in der Ethik durchsetzen können. In der Ethik des Krieges wird in der Regel von einem Recht zum Krieg ausgegangen, wenn nachstehende Bedingungen erfüllt sind:
1) Es liegt ein gerechter Kriegsgrund vor.
2) Die Kriegsfolgen stehen in einem angemessenen Verhältnis zum Kriegsgrund (Proportionalität).
3) Es existiert eine vernünftige Chance, den Krieg zu gewinnen.
4) Alle milderen Mittel wurden ausgeschöpft.
5) Der Krieg wird aufgrund der richtigen Intention geführt.
6) Er wird von einer legitimen Autorität begonnen.
7) Der Krieg wird dem Gegner öffentlich erklärt.
Die Auflistung ist höchst problematisch. Doch aus den vielen kontroversiellen Themen, die uns Gisbertz-Astolfi aufzeigt, nur einige wenige auszuwählen, um den Rahmen einer Rezension nicht zu sprengen, ist eine fast unmögliche, jedenfalls eine unerträgliche Aufgabe. Jede ethische Diskussion, die der Autor mit wenigen Worten gekonnt auf den Punkt bringt, ist bedeutsam und könnte hier Erwähnung finden. Und doch muss sich ein Rezensent dieser Aufgabe stellen. Bevor im Folgenden einige wenige ethische Debatten beispielhaft angeführt werden, ist zu betonen, dass Gisbertz-Astolfi nicht den Anspruch erhebt, für jedes ethische Dilemma eine finale Lösung zu präsentieren. Er stellt die vorherrschenden, oft gegensätzlichen Positionen dar und erlaubt sich gelegentlich, sich selbst zu zitieren und auf diese Weise seine eigene, wohl fundierte Meinung darzulegen. Doch in der Ethik gibt es keine Autorität, und das ist dem Autor durchaus bewusst.
Humanitäre Intervention
In der Ethik des Krieges versteht man unter einem „gerechten Kriegsgrund” einen ethisch begründeten Anlass, der nicht politisch ist und nicht von einem Kriegsherrn als pseudorechtfertigender Vorwand propagiert wird. Als „ethisch gerecht” werden ausschließlich Selbstverteidigung und die Verteidigung anderer anerkannt. Für Letzteres hat sich der Fachbegriff „humanitäre Intervention” etabliert.
Beim Völkermord in Ruanda und beim Massaker in Srebrenica hat die internationale Gemeinschaft eine unrühmliche bzw. passive Rolle gespielt. Eine Lehre daraus ist, dass Staaten nicht wegsehen dürfen, wenn in einem anderen Staat schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen geschehen. Auf der anderen Seite stellt die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates eine Verletzung seines Souveränitätsstatus dar und ist damit klar völkerrechtswidrig. Die Souveränität der Staaten ist das zentrale Gut im Völkerrecht. Soweit ein Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zustande kommt, besteht eine völkerrechtliche Erlaubnis. Wenn aber ein solcher Beschluss aufgrund politischer Lähmung scheitert, stellt sich das Problem, ob trotzdem aus ethischen Gründen zum Schutz basaler Menschenrechte bei Ereignissen, die „das moralische Gewissen der Menschheit schockieren“ (Michael Walzer), eine humanitäre Intervention, also ein Krieg, begonnen werden darf. Gisbertz-Astolfi beschreibt das Problem wie folgt: „Denn wenn die eigene Überzeugung der Maßstab des Rechts wird, gilt das auch für andere – und eine Erosion der Achtung gegenüber dem Völkerrecht ist in den letzten Jahren sicherlich zu konstatieren“.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sprechen sich Ethiker wieder verstärkt dafür aus, dass es nie der politischen Wertung eines einzelnen Staates überlassen werden darf, über eine humanitäre Intervention zu entscheiden. Das könnte sich im Hinblick auf die Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates bei zukünftigen Konfliktherden mit genozidem Charakter noch als fataler Fehler erweisen. Auch die Tatsache, dass Russland seinen Völkerrechtsverstoß mit der Behauptung der Entnazifizierung nicht einmal ernsthaft versucht hat, seinen gewaltsamen Einmarsch in die Ukraine mit einem allgemein anerkannten ethischen Grund zu rechtfertigen, erwähnt Gisbertz-Astolfi vermutlich deshalb nicht, weil das Offensichtliche nicht geschrieben werden muss.
Prävention versus Präemption versus Schurkenstaaten
Präventivkriege zur Vorbeugung gegen zukünftige Gefahren werden laut Befund des Autors von der Mehrheit als ungerechtfertigte Angriffskriege angesehen und sind als solche ethisch unzulässig. Ohne ein solches Verbot würden Kriege zu schnell und einfach erlaubt und daher noch häufiger als Mittel der internationalen Politik genutzt.
Um aber nicht erst einen Erstschlag abwarten zu müssen, der eine weitere Verteidigung verunmöglicht, sollen präemptive Maßnahmen, also das Zuvorkommen eines konkret und unmittelbar bevorstehenden Angriffs, ethisch gerechtfertigt sein.
Das Völkerrecht erlaubt keine Präventivkriege, und doch haben die USA unter dem falschen Vorwand der Vernichtung von Massenvernichtungswaffen „in einem Krieg gegen den Terrorismus“ den Irakkrieg begonnen. Seitdem versuchen einige Philosoph*innen das bis dahin allgemein anerkannte Verbot des Präventivkrieges zumindest ethisch zu relativieren. Bei schweren Bedrohungen von „Schurkenstaaten“ soll ein Präventivkrieg legitim sein. Unter „Schurkenstaaten“ versteht der US-amerikanische Philosoph David Luban Staaten, die 1) militärisch sind, 2) auf einer Ideologie beruhen, die Gewalt befürwortet, 3) eine einschlägige Vorgeschichte der Gewalttätigkeit besitzen und 4) ihre militärische Gewaltpotenziale ausbauen und so zu einer tatsächlichen Bedrohung werden. Man muss kein Zyniker sein, um festzustellen, dass all dies gerade auch auf die USA zutrifft. Ein solcher Kommentar unterlässt Gisbertz-Astolfi jedoch nobel.
Gisbertz-Astolfi führt aber mit mehreren Nachweise aus, dass die Idee zwischen normalen Staaten und Schurkenstaaten zu unterscheiden, keine wohlwollende Resonanz in der Fachwelt hervorgerufen hat.
Zum Kriterium, den Krieg gewinnen zu können
Wie aus der obigen Auflistung ersichtlich wird, müssen neben einem gerechten Kriegsgrund noch sechs weitere Bedingungen hinzukommen, um einen Selbstverteidigungskrieg oder eine humanitäre Intervention ethisch zu rechtfertigen. Zumindest wird dies von einem Teil der Moralphilosophen gefordert, wobei darüber keine Einigkeit besteht.
Ein ethisches Kriterium lautet, dass eine vernünftige Chance bestehen muss, den Krieg zu gewinnen. Eine recht überbordende Anforderung, die hier ein Teil der Ethiker*innen aufstellt, wie ein anschaulicher Vergleich von Gisbertz-Astolfi mit einem Fall aus der individuellen Selbstverteidigung exemplifiziert:
Wird die körperlich schwächere Person A von der körperlich massiv stärkeren Person B angegriffen und vergewaltigt, wird kaum ein Mensch argumentieren, A habe kein Recht, B mit Bissen und Treten empfindlich zu verletzen, nur weil für A letztendlich keine reale Chance auf eine erfolgreiche Abwehr der Vergewaltigung besteht.
Wie der aktuelle Fall der Ukraine verdeutlicht, kann ein militärisch schwach aufgestellter Staat auf die Unterstützung politischer Verbündeter zählen und/oder es kann sich die Situation mit der Dauer des Kriegsgeschehens verändern (zum Beispiel erhält die Ukraine moderne Waffen, während Russland zunehmend auf Bestände aus dem Kalten Krieg zurückgreifen muss). Der Wille eines Volkes, sich nicht einem anderen Staat zu unterwerfen, kann nachhaltiger wirken als Propagandalügen zur Manipulation eines Volkes, das Ehemänner, Söhne und Freunde in einem Angriffskrieg verliert. Der geschulte Österreicher ist ohnedies besonders empfindlich und von der Geschichte gewarnt, wenn er liest, dass man vor der Gewalt weichen soll. „Wir weichen der Gewalt“ waren die vorletzten Worte des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg am 11. März 1938, der um „keinen Preis – auch in dieser ernsten Stunde nicht – deutsches Blut vergießen“ wollte. Der weitere Verlauf der mörderischen, blutströmenden Geschichte Österreichs ist bekannt.
Ein rechtliches Faktum stellt es dar, dass gemäß den bereits oben zitierten Normen der Charta der Vereinten Nationen ein Staat, der überfallen wird, „naturgegeben“ (!!!) das Recht auf Verteidigung besitzt und von der Chance auf einen Sieg in dieser Bestimmung keine Rede ist.
Aus all dem lässt sich meiner Ansicht nach nur Schlussfolgern, dass die für eine Selbstverteidigung eines Staates geforderte Bedingung einer positiven Chancenabschätzung übermoralisierend ist. In der eleganten, zurückhaltenden Formulierung von Gisbertz-Astolfi liest sich die Kritik hingegen so: Es gibt „spannende Begründungsprobleme“.
Zum Kriterium der Proportionalität
Die vorgenannten Überlegungen treffen mutatis mutandis auch auf das Erfordernis der Proportionalität zu. Ein wesentliches Problem liegt bei diesem Kriterium darin, dass die Folgenabwägung praktisch unmöglich ist. Wiederum in den geschliffenen Worten von Gisbertz-Astolfi formuliert: „Jede Kalkulation muss unter enormer epistemischer Unsicherheit erfolgen.“
Eine weitere Grundsatzfrage lautet, welche Folgen kalkuliert werden dürfen bzw. müssen. Etwa ist strittig, ob ein angegriffener Staat bei Proportionalitätsüberlegungen nur die Schäden bei sich einbeziehen muss oder ob sämtliche Nachteile berücksichtigt werden müssen, die ein Krieg bei beiden Kriegsparteien verursacht. Und falls alle negativen Folgen berücksichtigt werden müssen, stellt sich die Frage, ob die negativen Konsequenzen, die der Angreifer und sein Volk erleiden, gleichgewichtet werden sollten wie die Schäden beim angegriffenen Staat.
Strittig ist ferner, ob in die Waagschale zu werfen ist, dass bei Unterwerfung oder Nichtintervention bei einem nicht gerechtfertigten Angriffskrieg die internationale Weltordnung erodieren könnte. Aber wenn diese Gefahr bei der Folgenabschätzung eine Rolle spielen darf, so frage ich mich als Laie, muss diese dann nicht immer zu Gunsten eines Verteidigungskrieges sprechen?
Gisbertz-Astolfi zeigt also anschaulich auf, dass sich die Philosoph*innen auch in der Frage der Proportionalität uneinig sind. Ein Teil wendet das Kriterium der Verhältnismäßigkeit nicht an, weil eine staatliche Aggression stets eine kriegerische Antwort ethisch rechtfertigen soll.
Dürfen Soldat*innen getötet werden?
Der Behandlung dieser Frage wird überraschenderweise viel Platz im Buch eingeräumt. Wieder fragt sich der Laie, wie das überhaupt im Kriegsfalle strittig sein kann. Doch ist abermals in Erinnerung zu rufen, dass Gisbertz-Astolfi in seinem Buch die ethischen und nicht die völkerrechtlichen Fragestellungen beleuchtet.
Allerdings überfällt einem bei diesem Kapitel angesichts der Realitäten in einem Krieg schon stark das Gefühl, dass Hypermoralisten in ein – vor dem Gisbertz-Astolfi in seiner Einleitung ausdrücklich gewarnt hat – „intellektuelles Spiel“ verfallen und realitätsferne, unverständliche und letztlich unerfüllbare Handlungsanforderungen für kämpfende Soldat*innen aufstellen.
Es dreht sich unter anderem um die Frage, ob Kombattant*innen, die für einen Staat kämpfen, der einen ungerechtfertigten Angriffskrieg führt, ethisch gleich behandelt werden sollten wie die verteidigenden Kombattant*innen.
Zwei Denkrichtungen stehen sich gegenüber. Der „Traditionalismus“ besagt, dass es für moralische Rechte und Pflichten keinen Unterschied macht, ob die Kombattant*innen auf der gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Kriegsseite kämpfen. Der „Revisionismus“ hingegen betont die Haftbarkeit („liability to attack“) von Kämpfer*innen. Ähnlich wie ein krimineller Räuber von einem Polizisten zu Recht festgehalten wird und sich nicht gegen die rechtmäßige Festnahme mit Gewalt wehren darf, besitzt auch ein Kombattant auf der ungerechtfertigten Kriegsseite kein legitimes Recht zur Selbstverteidigung, wenn sich Kombattant*innen der gerechten Kriegsseite rechtmäßig verteidigen. Revisionisten akzeptieren den Einwand nicht, dass viele Kombattant*innen unfreiwillig eingezogen werden, da letztlich immer die Wahl bestehe, die Konsequenzen einer Kriegsdienstverweigerung zu tragen.
Die detaillierten Diskussionen pro und contra der moralischen Gleichheit der Kombattant*innen sind für Humanist*innen aufschlussreich, doch scheinen sie angesichts des Überlebenstriebes eines jeden Menschen im Kampf praktisch bedeutungslos. Des Weiteren ist aus völkerrechtlicher Sicht festzuhalten, dass Kombattant*innen für ihre bloße Teilnahme an rechtmäßigen Kampfhandlungen, die im Auftrag ihres Staates geführt werden, nicht bestraft werden dürfen, und nach Beendigung der Feindseligkeiten freizulassen sind.
Kollateralschaden
Die von Gisbertz-Astolfi dargelegten sophistischen Deutungsargumentarien, die von Philosoph*innen angestellt werden müssen, um ethische Rechtfertigungsgründe für die Tötung von Zivilist*innen oder für andere Schäden (etwa am Kulturgut) zu finden, zeigen ein weiteres Mal die Grenzen einer Ethik des Krieges auf.
Nichtkombattant*innen stellen keine unmittelbare Bedrohung dar, und gemäß dem Diskriminierungsgebot muss in Kampfhandlungen zwischen ihnen und aktiven Kämpfern unterschieden werden. In der Praxis gestaltet sich die Umsetzung dieser Maxime jedoch äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Auch aus diesem Grund sind Vertreter eines absoluten Pazifismus stets gegen einen Krieg, auch wenn dieser zur Verteidigung von basalen Menschenrechten oder zur Hintanhaltung von Völkermord notwendig wird. Die meisten ethischen Denker*innen vertreten jedoch einen anderen Standpunkt und halten Kollateralschäden für ethisch vertretbar. Sie stützen sich dabei auf das „Prinzip der Doppelwirkung“.
Die Ausnahmeregelung des „Prinzips der Doppelwirkung“ wirkt jedoch eher als eine halbseidende Ausrede als ein wohlbegründetes ethisches Postulat. Es besagt, dass man eine Handlung ausführen darf, die vorhersehbar sowohl eine gute als auch eine schlechte Wirkung hat, wenn
1) das Ziel der Handlung ethisch gutes ist,
2) die gute und die nicht negative Wirkung beabsichtigt wird,
3) die gute Wirkung nicht durch die negative Wirkung hervorgebracht wird und
4) die gute Wirkung die negative Wirkung (deutlich) überwiegt.
Aus Sicht der Opfer und der Hinterbliebenen klingt das zynisch, ist es auch. Angeblich soll es ethisch einen fundamentalen Unterschied machen, ob man Unschuldige tötet, um damit einen (ethisch guten) Zweck zu erreichen, oder, ob man den Tod von Unschuldigen lediglich in Kauf nimmt. Aus Sicht des Opfers macht es jedenfalls keinen Unterschied. Juristen fällt umgehend die Schwäche dieser Argumentation auf. „Dolus eventualis (bedingter Vorsatz)“ lautet in der Sprache der Rechtsexperten der Fachbegriff dafür, wenn ein Täter es für möglich hält, dass seine Handlung zu einem schädlichen Ergebnis führen könnte. Obwohl der Täter den Schaden nicht unbedingt herbeiführen möchte, nimmt er diesen letztlich billigend in Kauf. Dieser Täter verhält sich genauso rechtswidrig und ist zu bestrafen, wie ein Täter mit einem dolus directus, also wie jemand, der einen strafgesetzlich verpönten Sachverhalt auch verwirklichen will. Lediglich in der Strafzumessung spielt die Art des Vorsatzes eine Rolle.
In der Tat zeigt die Darstellung von Gisbertz-Astolfi auf, dass es im Detail noch komplexer wird, weil einige Philosoph*innen erkennen, dass das Prinzip der Doppelwirkung nicht der Weisheit letzter Schluss bietet. Etwa wird diskutiert, ob Risiken eingegangen werden müssen, um Kollateralschäden zu verhindern. Manche fordern, der Pilot eines Bombers müsse tiefer fliegen und sich damit der gegnerischen Flugabwehr aussetzen, um gezielt nur militärische Ziele zu erreichen. Dagegen wenden andere ein, dass es nicht einzusehen ist, warum Kombattant*innen, die im Rahmen einer humanitären Intervention ihr Leben für Nichtkombattant*innen eines anderen Staates riskieren, einem höheren Risiko ausgesetzt sein sollten, getötet zu werden, als jene Menschen, denen freiwillig geholfen wird.
Abgesehen davon, dass die ethische Regel des Prinzips der Doppelwirkung sich nicht sehr ethisch anmutet, sind ihre Kriterien in der Praxis wiederum schwer umsetzbar. Aber nicht nur das, womöglich ist diese Konstruktion höchst kontraproduktiv: Gisbertz-Astolfi referiert hier Adil Ahmad Haque, der im Zusammenhang mit menschlichen Schutzschildern einen wichtigen Einwand vorträgt: Wenn man nach dem Prinzip der Doppelwirkung nur dann Kollateralschäden hinnehmen darf, wenn diese proportional sind, biete es sich auf moralisch perverse Art und Weise an, sich zwischen möglichst vielen Nichtkombattanten*innen zu verstecken, damit gegnerische Angriffe illegitim werden.
Man gewinnt den Eindruck, beim Thema Kollateralschäden kollabiert die Ethik des Krieges in Zynismus und Ratlosigkeit.
Für wen ist das Buch „Ethik des Krieges“ geschrieben?
Dieses klar und schnörkellos verfasste Studienbuch, das mit vielen praktischen Evaluierungsfragen didaktisch hervorragend gestaltet ist, eignet sich wirklich für jeden, der sich für das ethische ius bellum interessiert. Kritik ist kaum anzubringen, man wünscht sich nur noch viel mehr vertiefende Texte. In dieser Hinsicht muss aber auf weitere Schriften von Gisbertz-Astolfi und auf das umfangreiche Literaturverzeichnis im Anhang des Buches verwiesen werden.
Gisbertz-Astolfi veranschaulicht ethische Dilemmata mit prägnanten Beispielen, wie man sie aus juristischen Lehrbüchern kennt (zum Beispiel: „Der Staat A greift den Staat B an, um …“). Die Sachverhalte sind so formuliert, dass Leser*innen im Geiste die Buchstaben A und B umgehend mit R und U ersetzen. Wer dieses Buch liest, idealerweise mehrfach, ist daher in der Lage, den Russland/Ukraine-Konflikt ethisch besser einzuschätzen, und zwar mit Kriterien, die weit über biergeschwängerte Stammtischthesen oder platten Statements medienaffiner Philosophenselbstdarsteller in reißerischen TV-Talkrunden hinausgehen.
Gisbertz-Astolfi fasst auf kohärente Weise die Antworten (nicht zu verwechseln mit „Lösungen”) der wichtigsten Moralphilosophen unserer Zeit zur modernen Kriegsführung und im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammen. Viele aktuelle Themen, die das Buch behandelt, mussten in dieser Rezension unerwähnt bleiben.
Verlag und Preise
Das Werk „Ethik des Krieges“ von Gisbertz-Astolfi ist 2024 in der Reihe „Studienkurs Ethik“ im Verlag Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG (Baden-Baden) mit 182 Seiten in einer Paperback-Ausgabe (ISBN 978-3-8487-8992-4) und als ePDF (ISBN 978-3-7489-3457-8) erschienen. Der Ladenpreis beträgt laut Verlagsangabe EUR 19,54.
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