Christian Bommarius | Todeswalzer
„Der Sommer 1944: Der Beginn des Alles oder Nichts“. „Am 1. Juni 1944 beherrschen deutsche Truppen fast ganz Europa, drei Monate später stehen die Alliierten an den Grenzen des Reichs“. Christian Bommarius, Journalist, Redakteur und Buchautor beleuchtet in authentischer Weise den Sommer 1944, in dem die letzte Phase des Krieges sich „in einer zuvor nie für möglich gehaltenen Geschwindigkeit zu drehen begonnen hatte“.Das Ende der deutschen Wehrmacht war bereits besiegelt, bis zur Kapitulation des Deutschen Reichs und der Zerschlagung der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 werden in Europa aber noch Millionen Menschen sterben.
Historisch genau führt der Autor anhand einzelner Spot- und Streiflichter die Leserinnen und Leser zu verschiedenen Schauplätzen des dramatischen Geschehens und zu herausragenden Ereignissen des Sommers 1944 in ganz Europa. Dokumentarische Belege, Briefe, Tagebucheintragungen, Berichte Überlebender und zahlreiche Zitate beleuchten den Kriegsverlauf, verbunden mit der Beschreibung von Schicksalen einzelner Personen und Gruppen. Alltägliche und besondere Begebenheiten, wie auch Gedanken und Reflexionen prominenter und wenig bekannter Zeitzeugen ergänzen die Darstellungen.
Als Beispiel ein Blick ins erste Kapitel des Buches („6. Juni 1944“), es ist dem „D-Day“, der Invasion alliierter Truppen in der Normandie, gewidmet:
Am Obersalzberg in Berchtesgaden wird der Alltag Hitlers beschrieben, „ihm entgeht, dass in der Nacht sein Untergang begonnen hat“. In Paris erleben Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir diesen 6. Juni als ersten Tag in einer neuen Welt. Margot Friedländer, eine 22jährige jüdische Berlinerin, wird ins KZ Theresienstadt eingeliefert. In der Nähe von Krakau fabuliert ein NS-Karrierist beim Reichsarbeitsdienst vom „Ausrotten des Untermenschentums“ in seinem Tagebuch. In Bari kämpfen jüdische Soldaten an der Seite der Alliierten, in Amsterdam jubiliert Anne Frank nach der D-Day-Meldung im englischen Radio. In Dresden würdigt der Germanist Victor Klemperer den Tag in seinem nachmalig berühmten „LTI-Notizbuch eines Philologen“ mit „ich vermag nicht mehr oder noch nicht zu hoffen“. In der Normandie erreichen um 6.00 Uhr mehr als 6000 Schiffe mit mehr als 200 000 Soldaten, unterstützt von über 11.000 Flugzeugen, den Kontinent.
13 Kapitel mit Überschriften wie „Wir sitzen im Kochtopf des Teufels“, „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser Offiziere“, „Ein deutscher Soldat kapituliert nicht“, „Ascheregen I und II“ gliedern ein Geschehen, das zu lesen inhaltlich oftmals schwer fällt und weitgehend fassungslos macht. Der Bericht vom Attentat am 20. Juli mit den darauf folgenden Gräueln der Gestapo und der Vollstreckung von 200 Todesurteilen, bzw. von insgesamt 5.200 Todesurteilen des Volksgerichtshofes, lassen erschaudern; die Beschreibung des Warschauer Aufstandes, die bestialischen Deportationen in die „Todesfabriken“ der KZs, das Schicksal der Zwangsarbeiter, die Maßnahmen des von Goebbels ausgerufenen „totalen Krieges“ und sehr Vieles mehr führen die Absurdität von Ideologie, Führerglaube, Fanatismus, politischer Kurzsichtigkeit, ja von Krieg überhaupt, drastisch vor Augen – Christian Bommarius bezieht die Leserinnen und Leser in die Vorgänge des Sommers 1944 tief mit ein. Um aber den Glauben an die Menschheit und Menschlichkeit nicht ganz zu zerstören, berichtet er auch von kleinen Lichtblicken und von neuer Lebensfreude in den befreiten Städten; neben dem fast unfassbar Schrecklichen kommen auch Momente humanen Verhaltens, wie z.B. die Rettung von Hans Rosenthal durch seine Nachbarn, oder von Wladyslaw Szpilman durch den deutschen Offizier Wilm Hosenfeld, zur Sprache.
Um den Wahnsinn des im Sommer 1944 beginnenden „Endkampfes“ zu verdeutlichen, einige Zahlen: Zwischen dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 und dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verloren mehr als 2,8 Millionen deutsche Wehrmachtsangehörige und Zivilisten ihr Leben. Ab dem 21. Juli 1944 werden in nicht einmal zehn Monaten bis zum Ende des Krieges mehr als vier Millionen Deutsche und rund 1,5 Millionen Rotarmisten sowie über 100 000 US-Amerikaner und Briten sterben, Hunderttausende KZ-Häftlinge werden noch ermordet. Mehr als 60 Staaten waren direkt oder indirekt am Weltkrieg beteiligt, er kostete etwa 60 bis 70 Millionen Menschen, in der Mehrzahl Zivilisten, das Leben.
Mit einer Mischung aus Sachlichkeit und innerer Anteilnahme führt Christian Bommarius das ungeheuerliche Handeln der NS Nomenklatura und ihrer Schergen und gleichzeitig das Entsetzen, das Leid und die Trauer des Krieges vor Augen – verbunden mit dem Aufruf, daraus Lehren zu ziehen. In diesem Zusammenhang verweist er auf einen 1935 von Joseph Goebbels verfassten Hetzartikel mit der Überschrift „Die Dummheit der Demokratie“: Goebbels erklärt darin, wie es gelingen konnte, das demokratische System und „die alten Esel“, gemeint sind dessen Parlamentarier, in nur wenigen Jahren auszuschalten. Zitat Goebbels:
„Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde. Die verfolgten Führer der NSDAP traten als Abgeordnete in den Genuss der Immunität, der Diäten und der Freifahrkarte. Dadurch waren sie vor dem polizeilichen Zugriff gesichert, durften sich mehr zu sagen erlauben als gewöhnliche Staatsbürger und ließen sich außerdem die Kosten ihrer Tätigkeit vom Feinde bezahlen. Aus der demokratischen Dummheit ließ sich vortrefflich Kapital schlagen“.
„Es war keine erfreuliche Erfahrung, ein Buch über die blutigsten Monate des verheerendsten Kriegs der Weltgeschichte zu schreiben“, so der Autor (S. 305) – und es ist für Leserinnen und Leser nicht leicht, in diese Zeit des Schreckens und der Vernichtung einzutauchen (der Begriff „Walzer“ im Buchtitel ist als Euphemismus hinterfragbar). Als Empfehlung, das Buch zu lesen, sei neben seiner journalistischen Qualität und dem eventuellen Wunsch, mehr über diesen Zeitabschnitt der Geschichte zu wissen, manches besser verstehen zu wollen, auch Christian Bommarius’ Schlusssatz zitiert:
„Die ´demokratische Dummheit´, politische Gegner nicht als Feinde zu betrachten, gehört zum Wesen der Demokratie. Aber der Selbstmord gehört nicht dazu. Wer nicht gezwungen sein will, irgendwann den Todeswalzer zu tanzen, kann nicht aufmerksam genug sein. Wir sind gewarnt“.
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