Kafka in Kasachstan

Protesters hold placards during an opposition rally in Almaty, Kazakhstan on February 28, 2021. © 2021 RUSLAN PRYANIKOV/AFP via Getty Images
Protesters hold placards during an opposition rally in Almaty, Kazakhstan on February 28, 2021. © 2021 RUSLAN PRYANIKOV/AFP via Getty Images

Andrew Stroehlein von Human Rights Watch schrieb heute einen Bericht über die Menschenrechte in Kasachstan.


Stell dir Folgendes vor. Du bist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Übrigens hast du nichts Falsches getan, um dorthin zu gelangen – du hast lediglich friedlich gegen die Regierung protestiert – aber sie haben dich trotzdem eingesperrt. Jetzt gehst du endlich als freier Mensch durch die Gefängnistore.

Nun ist es an der Zeit, dein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Eines der ersten Dinge, die du erledigen musst, ist Geld zu besorgen, also gehst du zu einem Geldautomaten. Aber deine Karte funktioniert nicht. Als du zur Bank gehst, um herauszufinden, was das Problem ist, sagt man dir, dass dein Konto gesperrt wurde. So erfährst du, dass du auf der „Liste für Terrorismusfinanzierung“ der Regierung stehst.

Du dachtest, du wärst endlich frei, aber es stellt sich heraus, dass du es nicht bist. Nicht wirklich.

Du bist zwar wieder Teil der Gesellschaft, aber du kannst nicht wirklich mit ihr interagieren. Du bist finanziell geächtet und von der modernen Wirtschaft ausgeschlossen. Es ist dir verboten, Kreditkarten und Debitkarten zu benutzen.

Theoretisch darfst du einer Arbeit nachgehen, aber welcher Arbeitgeber würde jemanden einstellen, der auf der Sperrliste der Regierung steht – zumal er besondere Vorkehrungen treffen müsste, um dich zu bezahlen?

Als du verurteilt wurdest – wiederum für das Nichtverbrechen des friedlichen Protestierens – stand im Urteil nichts von diesen Einschränkungen. Und wenn du versuchst, mehr herauszufinden, wirst du abgewiesen. Manchmal sagen die Behörden sogar, sie wüssten nicht einmal, was es mit dieser Liste auf sich hat.

Das ist die kafkaeske Seite von Kasachstan: Unterdrückung ohne Rationalität. Die staatliche Bürokratie bestraft friedliche Oppositionelle, Regimekritiker*innen und Andere mit ungerechtfertigten, unklaren und unangekündigten Einschränkungen. Die politisch Verfolgten werden wirtschaftlich isoliert.

Ein Kernproblem dieser Geschichte ist, dass das Gesetz nicht zwischen gewalttätigem und gewaltlosem Extremismus unterscheidet. Daher können die Behörden in Kasachstan die Extremismus- und Terrorismusgesetze missbrauchen, um friedliche Andersdenkende ins Visier zu nehmen. Dies verstößt gegen das Völkerrecht zum Schutz der Menschenrechte.

Selbst Menschen, die sich nicht an Gewalt beteiligt, dazu angestiftet oder sie finanziert haben, unterliegen automatisch den hier beschriebenen finanziellen Beschränkungen. Dies greift in die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Menschen ein.

Der Fokus der Regierung muss enger gefasst werden. Sie sollte das Gesetz so ändern, dass Rechtsvorschriften, die sich auf Extremismus und Terrorismus beziehen, nicht missbraucht werden, auch nicht gegen friedliche Kritiker*innen. Außerdem muss sie Menschen, die wegen nicht gewalttätiger Straftaten verurteilt wurden, aus dieser Liste streichen.

Ein paar kritische Nachfragen von Kasachstans internationalen Partnern könnten hier ebenfalls helfen. Die kasachische Regierung ist um ihren guten Ruf in der Welt besorgt, und kafkaeske Albtraumzustände geben eben kein gutes Bild ab.

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Andrew Stroehlein

Andrew Stroehlein ist der europäische Medien- und Redaktionsdirektor von Human Rights Watch. Von Brüssel aus leitet er die Medienarbeit und -strategie in Europa und Zentralasien und berät die Organisation bei der öffentlichen Interessenvertretung über soziale Medien. Er schreibt den Newsletter von Human Rights Watch, Daily Brief.

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