Der Panther

© APA/AFP/GUILLAUME SOUVANT / GUILLAUME SOUVANT
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Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, daß er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt. 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, 
der sich im allerkleinsten Kreise dreht, 
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, 
in der betäubt ein großer Wille steht. 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille 
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, 
geht durch der Glieder angespannte Stille – 
und hört im Herzen auf zu sein. 

Rainer Maria Rilke, 1903


Dieses Gedicht, eines meiner Lieblingsgedichte, geht mir seit Jahrzehnten durch den Kopf. Unser Deutschlehrer hat uns in der sechsten Klasse, also 1972, den Humanismus anhand dieses Gedichts erklärt. Mit zwölf Jahren war ich noch nicht so weit, aber mehr als ein halbes Jahrhundert später ist der Groschen gefallen 🙂

Der Panther spiegelt für zentrale Themen des Humanismus wider,

  • Individualität: Der Humanismus legt großen Wert auf das Individuum und seine Freiheit. Im Gedicht wird das Individuum durch den Panther repräsentiert, der seiner Freiheit beraubt ist. Die Beschreibung seiner Gefangenschaft und der Auswirkungen auf seine Seele verdeutlichen, wie wichtig Freiheit für das Individuum ist.
  • Selbstbewusstsein: Humanistische Philosophen betonen die Bedeutung der inneren Welt und des Selbstbewusstseins. Rilkes Gedicht beschreibt die innere Gefangenschaft des Panthers und gibt einen Einblick in seine Gedankenwelt, obwohl das Tier äußerlich stark und majestätisch erscheint. Dies verdeutlicht die Diskrepanz zwischen äußerem Erscheinungsbild und innerem Zustand, ein Thema, das im Humanismus oft untersucht wird.
  • Empathie: Der Humanismus fördert Mitgefühl und Empathie gegenüber anderen Lebewesen. Rilkes Darstellung des Panthers ruft beim Leser Mitleid und Verständnis für das Leid des Tieres hervor. Das Gedicht lädt dazu ein, die Perspektive des Panthers einzunehmen und seine Isolation und Verzweiflung nachzuvollziehen.
  • Skepsis: Der Humanismus kritisiert die negativen Auswirkungen der Zivilisation auf den Menschen. Im Gedicht wird die Zivilisation durch den Zoo repräsentiert, der den natürlichen Lebensraum des Panthers ersetzt hat. Die Eingrenzung und Beobachtung durch Menschen stehen im Gegensatz zur natürlichen Freiheit des Tieres, eine Kritik an der Gesellschaft und ihren Einschränkungen.
  • Lebensinhalt: Der Humanismus strebt nach einer tieferen Wahrheit und Schönheit im Leben. Rilkes poetische Sprache und seine einfühlsame Beschreibung des Panthers offenbaren eine Suche nach der Wahrheit hinter der äußeren Erscheinung des Tieres und eine Wertschätzung der inneren Schönheit und Stärke, die trotz der Gefangenschaft besteht.

Rilke erforscht die innere Welt des Panthers. Sein Leid und seine Sehnsucht nach Freiheit. Für mich spiegelt das Gedicht zentrale humanistische Werte wider und fordert mich dazu auf, über die Bedingungen in der Gesellschaft und die Bedeutung von Freiheit nachzudenken.

 

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Dr. Andreas Gradert

Andreas Gradert studierte Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Psychologie an der University of Liverpool, Wirtschaftswissenschaften am MIT und Mediation am Wifi Salzburg und bei Lis Ripke.

Seit 22 Präsident des Humanistischen Verbandes Österreich, seit 24 der giordano bruno stiftung Österreich, früher im Präsidium Lebenshilfe Salzburg, jetzt im Präsidium Atheisten Österreich , aktiv im Zentralrat der Konfessionsfreien, bei der EU Fundamental Rights Agency, den Skeptikern, den Effektive Altruisten und diversen Menschenrechtsorganisationen sowie Beirat in der Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende.

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