Walter Isaacson | Der Code Breaker
Wie die Erfindung der Genschere die Zukunft der Menschheit für immer verändert
„Der Code Breaker“
Am 21. Juni 2012 wurden auf einer Wissenschaftlerkonferenz in Berkeley neue Erkenntnisse der Biologie präsentiert, die nach dem Untertitel des vorliegenden Buches die Zukunft der Menschheit für immer verändern. Walter Isaacson, einer der führenden Biografen Amerikas, erzählt die diesem Ereignis zugrunde liegende Entdeckung der CRISPR/Cas9-Methode, die 2020 zur Verleihung des Nobelpreises für Chemie an die beiden Forscherinnen Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier führte. Sehr detailreich mit Vorgeschichten und Nachbetrachtungen, verbunden mit den Biografien einer Vielzahl handelnder Personen, vermittelt das Buch, zum Teil reportagehaft, zum Teil anekdotisch, die wichtigsten Stationen der einschlägigen Forschung mit den sich daraus ergebenden Entwicklungen. Ergänzt mit Erläuterungen bietet es auch Einblicke in wissenschaftliche Fragestellungen und Arbeitsweisen sowie in Probleme, die sich aus Rückschlägen oder Konkurrenzsituationen ergeben.
Über Milliarden von Jahren haben Bakterien und Archaeen eine sehr effektive Methode der Immunabwehr von Viren entwickelt. Extrem vereinfacht dargestellt verteidigen sie sich, indem sie einen Teil der viralen DNA ausschneiden und in ihre DNA implantieren, um das Virus identifizieren zu können, wenn sie erneut angegriffen werden. CRISPR sind Abschnitte sich wiederholender DNA in ihrem Erbgut, CAS (von CRISPR-associated) ist ein Schneideenzym, das fremdes Erbgut von Viren oder Plasmiden zerstört. Geneditieren erfordert ein Enzym, das beide DNA-Stränge zertrennen kann und eine Orientierungshilfe, die das Enzym zu genau der Stelle in der DNA einer Zelle hinzuleiten vermag, wo es den Schnitt setzen soll. CAS9 kann als Genschere zum Zerschneiden von DNA programmiert werden, mit der CRISPR/Cas9-Methode können Gene ausgeschaltet, eingefügt oder völlig entfernt werden, um gentechnisch veränderte Organismen zu erschaffen.
Nach Ansicht des Autors bewirkt die Entdeckung von CRISPR/Cas9 die dritte große Revolution der Neuzeit, die letztendlich zur „Frage aller Fragen, dem Ursprung des Lebens und der Zukunft der Menschheit“ führt (als erste große Revolution nennt er die durch Einstein begründete neue Physik, als zweite die Idee und Möglichkeit, alle Informationen in Binärziffern zu fassen und zu verarbeiten).
Das Buch umfasst in chronologischer Reihenfolge einen Zeitraum von 160 Jahren: Von Charles Darwins „Origin of Species“ zu Gregor Mendels Vererbungsregeln, von der Entdeckung der Doppelhelix durch James Watson/Francis Crick zur ersten vollständigen menschlichen Genom Sequenzierung durch Craig Venter bis hin zur Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Coronaviren im Jahr 2020. Die Biografie von Jennifer Doudna bildet den roten Faden des Buches; mit spürbarer Empathie beschreibt Walter Isaacson ihren persönlichen Werdegang, ihre wissenschaftliche Karriere, ihre in Interviews geäußerten Gedanken und, last not least, ihre Rivalität zu konkurrierenden Forschern im Ringen um die Patenterteilung. Neben Doudnas Lebenslauf beleuchtet Isaacson auch allgemein, wie Wissenschaftler:innen „ticken“, wie wissenschaftlich gedacht und gearbeitet wird, wie Forschung abläuft, was genau in wissenschaftlichen Laboren passiert und inwieweit große Entdeckungen von individueller Genialität oder von Teamwork bestimmt werden. Er betont die Bedeutung von Grundlagenforschung, aus der – oftmals unerwartet – bahnbrechende Innovationen entstehen.
In 9 großen Teilen mit 56 Unterkapiteln vermitteln die knapp 700 Seiten des Buches eine fundierte Einführung in die moderne Biochemie; von den Anfängen bis zur Entwicklung der CRISPR/Cas9-Methode, die als fundamentales „Umschreiben des Codes des Lebens“ bezeichnet werden kann. Bereits erzielte Erfolge gegen Erbkrankheiten (Beispiel Sichelzellenanämie), wie auch gegen diverse Krebs- und Viruserkrankungen, bestätigen die damit verbundenen Erwartungen, die nahezu unüberschaubare Fülle weiterer möglicher Anwendungen wirft gleichzeitig gravierende Fragen auf. Mehrere Kapitel mit weit über 100 Seiten des Buches sind den Chancen und Risiken von „Genom Editierung“ im humanen Bereich gewidmet: Eliminierung von Erbkrankheiten durch Keimbahneingriffe, somatische Heilung zahlreicher Krankheiten, „Verbesserung“ des Genoms im Hinblick auf gewünschte Eigenschaften eines Kindes und – derzeit (noch) weltweit geächtet – die „Produktion“ von Designerbabys.
Aus der Vielzahl interessanter Themen zwei Beispiele:
a) Die Geburt von „CRISPR-Zwillingen“ im Jahr 2018.
Der chinesische Biologe He Jiankui griff als erster (und, soweit man weiß, bis jetzt als letzter) in die Keimbahnen menschlicher Embryos ein, um mittels Ausschaltung bestimmter Gene Babys, deren Vater im konkreten Fall HIV positiv war, gegen das HIV-Virus zu immunisieren. Der Eingriff („damit wurde die Menschheit jäh und unerwartet in eine neue Ära katapultiert“) löste einen weltweiten Schock mit Protesten weiter Bevölkerungskreise und nahezu aller führenden Wissenschaftler:innen aus, die dazu geführten Diskussionen finden im Buch ihren Niederschlag. He wurde zu einer Haftstrafe von 3 Jahren verurteilt.
b) Die Entwicklung von mRNA Vakzinen gegen Corona:
Coronaviren bestehen aus RNA, bei Covid-19 mit 29.900 Nukleotiden (die menschliche DNA enthält >3 Milliarden). Mit Kryoelektronenmikroskopie erhielt man – Atom für Atom – ein exaktes Modell des Virus, was eine Voraussetzung für seine Bekämpfung bildete. Die dazu entwickelte Methode besteht darin, mit CRISPR das Protein Ribonuklease „Dicer“ – von J. Doudna entdeckt – zum Virus zu bringen und dessen genetisches Material enzymatisch zu zerschneiden. Ab 13. März 2020 begannen mehrere Teams mit der Entwicklung der Technologie, menschliche Zellen mit Hilfe von mRNA-Sequenzen gegen Corona zu immunisieren, im Dezember 2020 wurden in den USA zwei darauf basierende mRNA-Vakzine zugelassen.
In einem Epilog reflektiert der Autor die Bedeutung und Versprechen von CRISPR/Cas9:
„Die Natur brauchte Millionen von Jahren, um drei Milliarden Basenpaare DNA auf komplexe und manchmal nicht perfekte Art so miteinander zu verflechten, dass diese erstaunliche Vielfalt möglich wurde. Sind wir nicht auf dem Holzweg, wenn wir jetzt glauben, einfach hingehen und unser Genom so bearbeiten zu können, dass all das, was uns nicht gefällt, verschwindet“? Nach weiteren Überlegungen kommt er zum Schluss: „Wenn wir CRISPR klug einsetzen, wird die Biotechnologie uns in die Lage versetzen, Viren abzuwehren, genetische Defekte zu beseitigen, und unseren Körper und Geist zu schützen“. „Dabei werden wir nicht nur auf Wissenschaftler, sondern auch auf Humanisten angewiesen sein“.
Die relativ einfach anwendbare CRISPR/Cas9-Methode bietet Möglichkeiten der Genom-Editierung, die in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden können. Neben Krankheitsbekämpfung im humanen und tierischen Bereich, auch in der Nahrungsmittelerzeugung durch Fermentation, in der Pflanzenzüchtung und in der Umwelt (z.B. durch die Umsetzung von Kohlenstoff aus der Atmosphäre in organische Verbindungen durch in Teichen lebende Bakterien), letztere Themen werden im Buch nicht behandelt. Wie das Beispiel der „CRISPR-Zwillinge“ zeigt, birgt die Methode auch Möglichkeiten von eklatantem Missbrauch. „Bio-Hacking“, „Bio-Terrorismus“ und militärischer Einsatz stellen weitere reale Gefahren dar, weltweit wird in unzähligen Laboren dazu geforscht. Bereits verabschiedete Gesetze mit harten Strafandrohungen sollen Schlimmes verhüten, zahlreiche juristische, ethische und moralische Fragen sind jedoch nicht geklärt, bzw. werden national unterschiedlich beantwortet.
Das Buch liest sich leicht und flüssig in der Kombination von drei Genres: Populärwissenschaft, Biografie und Reportage. Ein Vorhaben mit hohem Anspruch, nicht leicht zu erfüllen, insgesamt aber gelungen. Der (populär)wissenschaftliche Teil erfordert Vorwissen oder Zusatzinformationen, Wikipedia ist dabei hilfreich. Die Ausführlichkeit der Darstellungen benötigt Ausdauer, eine Straffung des Textes, vor allem in den nichtwissenschaftlichen Teilen, hätte ihm gut getan. Trotz dieser Einschränkung kann das Buch als Wissensquelle und stellenweise spannende Lektüre empfohlen werden.
Rezension von Gerfried Pongratz, Mai 2020
© Ecowin Verlag, 2021, ISBN 978-3-7110-0306-5, 695 Seiten.
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