Extremismusexperte: „Islamisten wittern im Moment ihre große Chance“
Soziale Medien sind das zentrale Element der Radikalisierung.
LINZ/BERLIN. Ahmad Mansour, deutsch-israelischer Extremismusexperte, über wachsenden Antisemitismus und den Islam
Ahmad Mansour ist kritisch: gegenüber der Migrationspolitik westlicher Staaten, der scheinbaren Lähmung von Politikern und nicht zuletzt gegenüber dem Islam. Der deutsch-israelische Extremismusexperte und Autor, der palästinensischer Abstammung ist, führt seit Jahren ein Leben unter Polizeischutz. Vor seinem Auftritt heute Abend in Wels spricht er im OÖN-Interview über Radikalisierungsdynamiken und die Rolle sozialer Medien.
Laut einer Studie sehen nur 60 Prozent der unter 27-Jährigen in Österreich im Angriff der Hamas am 7. Oktober einen Terrorakt. Müssen wir uns Sorgen machen?
Ahmad Mansour: Natürlich, aber dieser Wert überrascht mich nicht. Man darf nicht vergessen, welche Propaganda von islamistischer Seite in den vergangenen zwölf Monaten stattfand. Das verzerrte Bild emotionalisiert junge Menschen, das macht mir große Sorgen. Dasselbe geschieht im Moment von rechtsextremer Seite, auch hier werden Erstwähler über soziale Medien umworben. Das zeigt uns nur, dass wir in Sachen politische Bildung ganz andere Wege gehen müssen. Im Moment macht die Mehrheitsgesellschaft den jungen Menschen keine Angebote, was aber wichtig wäre.
Was hat sich seit der Eskalation in Nahost geändert, wenn es um die Narrative islamistischer Prediger geht?
Islamisten wittern im Moment ihre große Chance. Sie befeuern die Propagandamaschine mit Bildern: von verletzten und weinenden Frauen und Kindern im Gazastreifen – damit kann man Menschen emotional erpressen. Der 7. Oktober und seine Folgen wirken als Brandbeschleuniger für eine gigantische Radikalisierungswelle.
Welche Rolle spielen Social-Media-Plattformen? Im August wurde in Wien ein Anschlag auf eines der Taylor-Swift-Konzerte verhindert, der Verdächtige dürfte sich ausschließlich im Internet radikalisiert haben.
Soziale Medien sind das zentrale Element geworden, um Menschen zu radikalisieren. Das, was wir jetzt sehen, ist nicht vergleichbar mit der Radikalisierungswelle des Islamischen Staates vor mehr als zehn Jahren. Damals gab es Offline-Strukturen, ganze Netzwerke von Salafisten, die sich untereinander kannten. In sozialen Medien wird das erste Mal auf Distanz zur Mehrheitsgesellschaft gegangen. Die Akteure sprechen erst harmlose Themen an, jedoch stets mit dem Unterton, dass Europa einen Krieg gegen den Islam führt, und der angeblichen Doppelmoral des Westens. Es wird sogar mit Menschenrechten oder Kriegsverbrechen argumentiert. Damit schaffen sie Hass auf eine bestimmte Gruppe, sei es der Westen, die Juden oder die Zionisten. Daraus ergibt sich ein großes Problem: Wir als Demokraten, als Mehrheitsgesellschaft, als Politik sind in diesen Medien überhaupt nicht vorhanden. Wir bieten keine Gegennarrative und schaffen es nicht, die Menschen zu erreichen.
Wo sind Ihrer Meinung nach die Hebel, um Radikalisierung entgegenzuwirken?
Uns war die Dimension des Radikalisierungspotenzials in sozialen Medien lange nicht bewusst. Und wir reagieren zu langsam. Immer. Ein Islamist beispielsweise postet pro Tag zwei Videos, wir brauchen zwei Monate, um darauf zu antworten. Es gibt aber ein weiteres Problem: Populisten und Radikale haben es viel leichter, ihre Botschaften zu transportieren. Sie machen das kurz, überspitzt, in Schwarz-Weiß und mit vielen Emotionen. Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter, Rechtspopulisten etwa sind nicht den Fakten verpflichtet. Da reichen 25-sekündige Videos, um Botschaften unters Volk zu bringen. Wir als Demokraten hingegen haben einen Anspruch auf Komplexität, so etwas wirkt aber unattraktiv auf eine Generation, die sich mit Widersprüchen nicht beschäftigen will. Da haben radikale Kräfte natürlich leichtes Spiel.
Sie beraten auch Menschen, die sich um Angehörige Sorgen machen, die sich radikalisiert haben könnten. Worin liegen die ersten Anzeichen?
Bei Islamismus ist es nicht so, wie man vielleicht annehmen würde, dass ein Mensch religiöser geworden ist. Das allein ist kein Zeichen von Radikalisierung. Es fängt aber an – und da wenden sich Eltern an uns – wenn plötzlich die Hamas oder der IS verteidigt wird. Auch ein veränderter Umgang mit dem anderen Geschlecht ist ein Warnhinweis. Wird etwa plötzlich Distanz zu Schulkolleginnen aufgebaut oder sogar gefordert, muss man aufpassen. Religiosität bestimmt plötzlich den Alltag, nimmt alles ein. In vertieften Gesprächen mit diesen Menschen merkt man dann, dass sie vereinfachte Denkmuster entwickelt haben – etwa, dass der Tod für eine Ideologie etwas Ehrenvolles ist.
Sie sprechen aus Erfahrung, gerieten in Ihrer Heimat Israel in Ihrer Jugend selbst in die Fänge eines fundamentalistischen Imams.
Ich war bis zu meinem 20. Lebensjahr Islamist. Als Jugendlicher war ich nicht auf der Suche nach Religion, sondern nach Entlastung. Ich wurde in der Schule gemobbt und war depressiv. Der Einzige, der damals bemerkt hat, dass es mir nicht gut ging, war eben dieser Imam, der schnell zu einer Art Vaterfigur für mich wurde. Am Anfang sprachen wir nicht über Religion, er war einfach für mich da. Irgendwann hat er mich dann zum Koran-Unterricht mitgenommen, und da tat sich für mich eine andere Welt auf: eine, in der ich dazugehörte, wo es Orientierung und klare Regeln gab. Ich hatte das Gefühl, zu einer Elite zu gehören. Ich erzähle das, weil es heute genau dieselbe Dynamik ist, die junge Menschen in die Fänge von Extremisten treibt. Nicht nur im Islamismus, sondern eigentlich in jeder radikalen Bewegung.
Sie plädieren für eine Reform des Islams, damit dieser überhaupt „demokratiekonform“ sein kann. Wie müsste diese aussehen?
Ein großes Problem des Islam, dem ich selbst angehöre, ist die Unmündigkeit im Umgang mit den Schriften. Diese gelten als Gottes Wort und damit als unverhandelbar. Dadurch entsteht ein „Buchstabenglaube“, der es erlaubt, Texte so zu interpretieren, wie es einem gerade passt. So macht es auch die Hamas, die den Kampf gegen Juden religiös begründet. Dabei war der Nahostkonflikt lange säkular, es ging ausschließlich um Territorialgewinne – und heute ist er eine weltweite islamische Angelegenheit. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir unsere heilige Schrift kritisch hinterfragen, so wie es im Christentum geschieht. In der Bibel gibt es auch Stellen, die zu Gewalt oder Antisemitismus aufrufen. Die meisten Christen haben aber eine Distanz zu diesen Texten aufgebaut, was ihnen erlaubt, sie in ihrem historischen Kontext zu deuten. Nur wenn wir Muslime ebenfalls mit diesem Prozess beginnen, hat der Islam eine Chance, in europäischen Demokratien anzukommen.
Sie werfen der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, sie behandle Migranten wie „Kuscheltiere“, wodurch eine kritische und konstruktive Debatte nicht geführt werden könne. Was braucht es in der Debatte?
Vor allem Klarheit und die Benennung doppelter Standards. Wenn in Europa ein Rechtsextremist einen Anschlag verübt, ist der Kompass bei Politikern klar ausgerichtet – und das völlig zu Recht. Sie verurteilen die Ideologie und fordern striktere Maßnahmen. In den vergangenen Jahren haben wir uns aber mit der sogenannten Identitätspolitik in eine Sackgasse manövriert, wodurch wir kritische Entwicklungen im migrantischen Milieu entweder verdrängen, beschönigen oder relativieren. Es findet keine Debatte über Religion und Sozialisierung statt. Politiker schaffen es nicht, die Entwicklung der Verhältnisse, die ich beobachte, zu benennen. Es handelt sich um Sprachlosigkeit aufgrund der Angst des Rassismusvorwurfs. Die einzigen Profiteure dieser Lähmung sind rechtsradikale Parteien – die sprechen diese Probleme an. Zwar ohne Differenzierung und voller Hass, aber sie haben zumindest eine Sprache, mit der sie Menschen erreichen. Als Demokraten müssen wir reagieren.
Der Beitrag erschien zuerst bei den OÖN.
Über MIND Prevention:
Innovative Strategien zur Extremismusprävention, Integration und Demokratieförderung
MIND prevention glaubt an ein gleichberechtigtes Miteinander. Wir glauben an Begegnung und Austausch als Schlüssel für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Als Team kämpfen wir für Freiheit und Selbstbestimmung.
Für unsere Demokratie.
MIND prevention entwickelt und realisiert Konzepte, mit denen geübt, gelernt und vermittelt werden kann, die eigenen Standpunkte zu reflektieren, mit dem eigenen Kopf zu denken und mit dem eigenen Herzen zu fühlen, um sich als mündiger Bürger in Deutschland zu integrieren.
Die Initiative wurde 2017 durch Ahmad und Beatrice Mansour gegründet und wendet sich an junge Menschen mit Migrations-, Extremismus- und Gewalterfahrung sowie Fachkräfte aus den Bereichen Psychotherapie, Pädagogik, Verwaltung.
THEMEN
Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheit verstehen, vermitteln, bejahen.
Im Zentrum der Arbeit von MIND prevention steht die Prävention von muslimischem Extremismus und Antisemitismus sowie die Förderung eines gleichberechtigten Miteinanders auf der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundwerte.
MIND prevention berät Fach- und Führungskräfte aus den Bereichen Psychotherapie, Pädagogik, Verwaltung und bietet praxisorientierte Hilfen für den Umgang mit Extremismus, Islamismus, Antisemitismus sowie Maßnahmen für gelingende interkulturelle Integrationsarbeit.
Wir arbeiten mit jungen Menschen, die direkt oder indirekt betroffen oder gefährdet sind. Mit erlebnisorientierten Programmen vermitteln wir die Werte und Grundsätze unserer offenen Gesellschaft und ermöglichen emotionalen Zugang. Durch die Entwicklung von tragfähigen Perspektiven fördern wir Toleranz, Empathie- und Demokratievermögen und reduzieren Radikalisierungsrisiken. Gleichzeitig motivieren wir die jungen Menschen zur sozialen Teilhabe in ihrer neuen Heimat.
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