Julian Nida-Rümelin: Linke Kräfte haben Kulturkämpfe regelmäßig verloren

Bild: NurPhoto (Imago)
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Ein Interview des philosophie Magazin mit Julian Nida-RümelinRektor der im Oktober 2022 gegründeten Humanistischen Hochschule Berlin, seit Mai 2020 stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats sowie bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU München.


Rechtspopulistische und neofaschistische Parteien haben bei der Europawahl das Rennen gemacht. Aber warum, wenn diese Parteien auf die ökonomischen Sorgen der Bevölkerung doch kaum eine Antwort wissen? Der Philosoph Julian Nida-Rümelin über fatale Analysefehler, die überschätzte Rolle von TikTok und den Linkskonservatismus Sahra Wagenknechts.

Herr Nida-Rümelin, bei der Europawahl am Sonntag wurde die CDU die stärkste Kraft, die AfD folgte an zweiter Stelle mit sechs zusätzlichen Sitzen, und die Grüne, SPD und Linke schlossen jeweils mit Verlusten im Vergleich zu den Wahlen vor vier Jahren ab. Wie ordnen Sie diese Ergebnisse ein?

Vielleicht können wir erst mal eine andere Darstellung wählen, als sie üblicherweise in den Medien gewählt wird. Dort ist ja immer von Prozentpunkten die Rede, und das ist durchaus sinnvoll, wenn man das Gesamtspektrum der Wählerschaft vor Augen haben will. Aber es ist ein verzerrtes Bild, wenn man auf den Erfolg oder Misserfolg einzelner Parteien schaut. Wenn man stattdessen die prozentualen Veränderungen der Wahlergebnisse betrachtet, ergibt sich für die Linke ein prozentualer Verlust von 52,7 Prozent, für die Grünen von 42,9 Prozent und für die SPD von 11,3 Prozent. So viel zu den Verlierern dieser Wahl. Wenn man sich auf der anderen Seite die höchsten prozentualen Zuwächse vor Augen führt, dann hat die AfD  um 43,6 Prozent, die Freien Wähler um 22,7 Prozent und die Union um 4,8 Prozent zugelegt. Damit wird diese Verschiebung nochmal sehr viel deutlicher. Jetzt kann man diese Einordnung auch wieder ein wenig relativieren, weil die AfD deutlich schlechter abgeschnitten hat als in den Umfragen der letzten Monate. Da lag die AfD bei rund 20 Prozent in ganz Deutschland, 30 Prozent in Ostdeutschland. Jetzt ist sie bei 15,9 Prozent gelandet. Das ist also doch ein deutlicher Rückgang. Man kann sagen, die AfD hat etwa ein Viertel ihrer Wählerschaft seit Anfang des Jahres verloren. Es scheint, dass sowohl die Demonstrationen gegen rechts als auch ihre Skandale durchaus nicht wirkungslos waren, wie oft behauptet wird.

Ist dieses Ergebnis Ihrer Meinung nach also ein Anlass zum Optimismus, da die Kräfte rechtsaußen doch nicht so gut abgeschnitten haben, wie zwischenzeitlich prognostiziert?

Die AfD hat zwar schlechter abgeschnitten als erwartet, aber trotzdem ist das Bild völlig eindeutig: Wir haben in ganz Europa eine massive Verschiebung nach rechts. Die Interpretationen dazu gehen weit auseinander. Ich sehe es schon so, dass es eine mehrfache Gefährdung der demokratischen Ordnung in Europa gibt, und ein Aspekt dieser Gefährdung ist die Stärkung rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen, wie sie auch in der AfD versammelt sind. Diese Verschiebung ist aber nun nicht deswegen eine Gefährdung der Demokratie, weil sich 1933 wiederholen wird. Das ist eine falsche Vorstellung. Das nationalistische Programm der Ausweitung nationaler Einflusszonen ist nicht mehr das Thema heutiger rechter Parteien. Stattdessen besteht die Gefahr in der schrittweisen Schwächung der Demokratie. Zum Beispiel dadurch, dass man die Rechtsstaatlichkeit gefährdet: durch Kastration der Verfassungsgerichte, wie das etwa in Ungarn der Fall ist, aber auch in anderen demokratischen Ländern mit rechter Regierungsbeteiligung, wie in Israel oder den USA unter Trump. Auch Meloni beginnt damit in Italien, und wir können davon ausgehen, dass Le Pen dasselbe tun wird, wenn sie nach Macron zur Präsidentin gewählt werden sollte. All das führt zu einer schleichenden Unterminierung der europäischen Demokratie.

Noch haben die AfD in Deutschland und das Bündnis um Le Pen in Frankreich allerdings keine Regierungsbeteiligung. Die Brandmauer steht noch.

Ja, und dieser Punkt ist der entscheidende. Die Konservativen, oder das, was in der Europäischen Volkspartei zusammengefasst ist, sind deutlich gestärkt aus dieser Europawahl hervorgegangen. Aber solange die Brandmauer – ich verwende jetzt auch mal diesen Begriff – gegenüber den Rechtspopulisten und den Rechtsextremen steht, ist die Europäische Volkspartei auf Unterstützung von Sozialdemokraten und Liberalen angewiesen. Wenn die Brandmauer aber fällt, dann besteht durchaus die Gefahr, dass die Rechtspopulisten und Rechtsextremen stark Einfluss nehmen. Die Gefahr dazu besteht jetzt schon: In Frankreich sind beispielsweise die Republikaner viel schwächer als die Le Pen Bewegung. Sie haben jetzt gesagt, sie wollen in der kommenden Wahl in Frankreich Wahlbündnisse eingehen, auch mit rechts. Hier wurde die Brandmauer bereits eingerissen.  Teilweise liegt dieser Trend auch an Fehleinschätzungen. Nehmen wir zum Beispiel Meloni, die Ministerpräsidentin in Italien. Einige haben immer gesagt: „Och, das ist ja nur eine Konservative.“ Sie ist aber keine Konservative, und meiner Meinung nach auch keine Postfaschistin (das „Post-“ würde ja implizieren, dass sie den Faschismus überwunden hätte), sondern sie ist eine Neofaschistin. Sie kommt aus dem „Movimento Sociale Italiano”, die aktuelle Nachfolgepartei Fratelli d’Italia hat nach wie vor ein Symbol für das Grab Mussolinis auf dem Parteiemblem – es ist völlig eindeutig, dass sie neofaschistisch geprägt ist. Aber sie war geschickter als einige andere. Sie war zum Beispiel geschickt genug, ihre pro-russische Position in eine pro-ukrainische zu wechseln und keine großen Konflikte mit der Europäischen Kommission zu beginnen, nachdem sie Regierungschefin wurde. Deswegen kommen hier die Missverständnisse zustande, es ginge in Italien ja gesittet zu und Meloni sei eine konservative Politikerin. Nein, sie ist eine der härtesten rechtsextremen Politikerinnen in Europa. Und jetzt, mit dieser neuen Konstellation – Le Pen in Frankreich, Meloni in Italien, Schwedendemokraten in Schweden, die FPÖ als stärkste Partei in Österreich, die AfD möglicherweise auf dem Sprung, in Landesparlamenten Regierungsverantwortung zu erreichen – damit ändert sich die Gesamtlage in Europa auf gefährliche Weise.

Auffällig war bei dieser Wahl, dass gerade viele junge Menschen konservativ und rechts gewählt haben. Stimmen Sie der Analyse zu, dass Inhalte auf Social Media Plattformen wie TikTok maßgeblichen Einfluss hierauf haben?

Ich glaube, man lügt sich da gerne in die Tasche. Denn auch heute vertreten viele die Auffassung: Die Jungen sind progressiv, die Alten sind konservativ bis rechts. Das war nie besonders plausibel. Bei der letzten Bundestagswahl zum Beispiel lagen die Grünen bei den Erstwählern vorne, allerdings gleichauf mit der FDP. Die Idee, die junge Generation sei durchgängig klimabewegt und progressiv, und die ältere Generation sei konservativ oder rechts, ist ein milieuspezifischer Blick – der Blick des gehobenen Bildungsbürgertums und der Zeitungsredaktionen. Das ist nicht die Gesamtbevölkerung. Das hat sich auch in dieser Wahl sehr deutlich gezeigt: Innerhalb von 2 Jahren gab es laut der Jugendstudie unter jungen Menschen bis 30 einen massiven Absturz der Grünen und einen massiven Anstieg der AfD – was sich ja nun auch in den Wahlergebnissen widerspiegelt. Und jetzt gibt es dann wieder die wohlfeile Interpretation, das läge an TikTok. Nein, Quatsch. TikTok gab es schon vor zwei Jahren. Die Rechten waren immer schon sehr aktiv auf den sozialen Medien. Das ist kein neues Phänomen. Was die Zahlen der Jugendstudie allerdings zeigen, ist, dass es eine Verschiebung der Perspektive gab. Was ist den jungen Menschen bis 30 besonders wichtig? Aktuell sind es Themen wie bezahlbarer Wohnraum, sogar Alterssicherung, die sie deutlich mehr besorgen als der Klimawandel, welcher erst an sechster oder siebter Stelle kommt. Davor stehen Themen wie Inflation und soziale Sicherheit. Die junge Generation besteht eben nicht nur aus Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus bestimmten Milieus, sondern das ist eine wesentlich breitere soziale Zusammensetzung, und da schlägt eben jetzt durch: wir haben keinen auffälligen Generationenkonflikt im Rechts-Links-Spektrum in Deutschland.

Mieten, Alterssicherung und Inflation sind alles Fragen der ökonomischen Absicherung. Eine oft diskutierte These zum Rechtsruck ist, dass dieser durch ökonomische Unzufriedenheit getrieben ist.

Ökonomische und soziale Aspekte spielen eine wichtige Rolle. Es gibt Daten, die zeigen, dass wenn man die Wahlergebnisse mit dem Einkommen korreliert, sich beträchtliche Unterschiede zwischen den Parteien ergeben. Beispielsweise sind die Grünen bei Wählern mit niedrigem Einkommen schlecht vertreten, während sie sehr gut bei denen mit hohem Einkommen vertreten sind. Bei der Union ist es ähnlich. Die AfD ist im Gegenzug stärker vertreten bei niedrigeren Einkommen als bei hohen. Es spielt eine Rolle. Aber nicht in dem simplen Sinne, wie man das vielleicht so annehmen möchte, nämlich dass die Linke bei niedrigen Einkommen und die Rechte bei den hohen Einkommen vertreten ist. Es gibt also Korrelationen, aber ganz andere als man normalerweise vermuten könnte. Ich will es ein bisschen polemisch sagen: Das marxistische und auch das ökonomistische, liberale Erklärungsmuster – die Leute tun das, was für sie ökonomisch nützlich ist, ist schlicht falsch. Wenn man das Wahlprogramm der Linkspartei anschaut, dann ist dort alles, was man sich sozialpolitisch wünschen kann, aufgelistet: stabile Mieten, Einkommensgarantien und so fort – aber die Linkspartei ist völlig abgestürzt, obwohl sich die Leute große sozialpolitische Sorgen machen. Das heißt, diese Korrelation funktioniert nicht; die direkte sozio-ökonomische Interessenlage schlägt nicht durch. Das zeigt sich schon von jeher – aber es zeigt sich besonders bei diesem Wahlergebnis.

Woran liegt das?

Hier kommt meiner Meinung nach das Thema Kultur ins Spiel, das sich an dem Phänomen Bündnis Sahra Wagenknecht gut erläutern lässt. In der üblichen Berichterstattung wird ja oft gefragt: Was ist jetzt das Bündnis Sahra Wagenknecht genau? Ist das jetzt rechts? Siehe Migrationspolitik. Oder ist es links? Siehe Sozialpolitik. Die Partei nennt sich selbst links-konservativ. Ja, sind sie jetzt konservativ oder links? Diese Verwirrung in der Berichterstattung ist Ausdruck einer Analyseschwäche. Wenn man in die Geschichte Deutschlands schaut, dann waren linke Kräfte – anarchistische kommunistische, sozialistische, teilweise auch sozialdemokratische – immer auch auf massive kulturelle Veränderungen gerichtet. Nicht nur, aber auch. Sie haben Kulturkämpfe, wenn man so will, begonnen und diese Kulturkämpfe regelmäßig verloren, das gilt für 1918/19 und die Folgejahre, das gilt auch für die 68er. Das hängt damit zusammen, dass diejenigen in der Bevölkerung, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Lage die Hauptadressaten sind, normalerweise nicht zu einer progressiven Elite gehören. Die Gewerkschaftslinke und die organisierte parteipolitische Linke war zum Beispiel immer migrationsskeptisch. Und zwar nicht nur deswegen, weil sich durch Migration die Arbeitsmärkte und Tarifverträge verändern, sondern auch deswegen, weil sie eben kulturell eher konservativ sind.

Die Entwicklungen, die sich im Zuge des BSW zeigen, sind also tatsächlich gar nicht neu?

Richtig, was das BSW anbietet, ist eigentlich eine alte Melange, nämlich die Melange aus kulturell nicht gerade progressiven Positionen und sozialpolitisch linken Positionen. Und dass das passt, zeigt der Einbruch der Linkspartei, die die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren hat. Es geht hier also auch um kulturelle Widerstände, die in der politikwissenschaftlichen Analyse tendenziell unterschätzt werden. Es besteht eine systematische Verzerrung der Analyse, weil die, die in den Medien berichten, nicht aus dem kulturkonservativen Kleinbürgertum oder aus dem Milieu der Facharbeiterschaft in Deutschland kommen. Somit kommt es zu Phänomenen wie BSW, aber eben auch zu der Stärkung der rechten Parteien, auch wenn Wähler damit gegen ihre eigenen, zumindest ökonomischen, Interessen stimmen.

Wo stehen wir dann jetzt, nach dieser Europawahl? Was sehen Sie jetzt als die größte Herausforderung für die EU in den kommenden Monaten?

Zunächst ist es wichtig, dass in der Europäischen Union die Brandmauer stehen bleibt. Hoffen wir, dass sich die demokratischen Konservativen und die Volksparteien auf die historischen Lehren besinnen. Die Machtergreifung der rechten Regierungen in Italien und in Deutschland kamen ja damals nicht zustande, weil die rechten Parteien so stark waren, sondern, weil die Konservativen und die Liberalen mitgemacht haben. Leider gibt es dazu auch sehr unterschiedliche Signale aus der Europäischen Volkspartei. Manfred Weber hat jetzt seit Monaten dafür geworben, sich mit Meloni ins Benehmen zu setzen. Ich glaube, aufgrund einer Fehleinschätzung der Fratelli Italia. In Italien geht nämlich der Abbau der Rechtsstaatlichen und die Einschränkung der Meinungsfreiheit schon los. Vermutlich ist auch der Zug anderer rechter Parteien in Europa, sich von der AfD abzugrenzen, hauptsächlich taktisch motiviert. Die Union kann auf europäischer Ebene mit einem Parteienbündnis nicht zusammen Politik machen, in dem die AfD stark ist. Die Hoffnung von Meloni ist, dass die Europäische Volkspartei mit den rechten Kräften zusammenarbeitet und dass der Rausschmiss der AfD die Chance dazu erhöht. Das wird man sehen, wie sich die nächsten Wochen entwickeln. Meine Vermutung ist, dass es eine neue Konstellation geben wird, bei der sich die Rechten und die Rechtspopulisten zu einem neuen europäischen Parteienbündnis zusammenschließen, unter Ausschluss derjenigen, die die Brandmauer aufrechterhalten. Wenn also diese Brandmauer auf europäischer Ebene tatsächlich fällt, dann haben wir eine Mehrheit von Konservativen und Rechten. Und dann werden wir dieses Europa schon bald nicht mehr wiedererkennen. •

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Dr. Andreas Gradert

Andreas studierte Theologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften und Mediation.

2013 Präsidium Lebenshilfe Salzburg (bis 2018)
2021 Präsidium Atheisten Österreich
2022 Präsident Humanistischer Verband Österreich
2023 Präsident giordano bruno stiftung Österreich
2024 Beirat ÖGHL

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