Ethikunterricht: Zahlen bitte!

Ethikunterricht in Österreich
Ethikunterricht in Österreich

​Seit Anfang September 2021 existiert der Ethikunterricht als normales Unterrichtsfach an österreichischen Mittelschulen. Für SchülerInnen der neunten Schulstufe, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen, ist er verpflichtend. Er kann aber auch nur mit einer Abmeldung von Religion in der ersten Schulwoche besucht werden. Weitere Aspekte verringern seine Attraktivität: Z. B. müssen SchülerInnen den Unterricht an einer anderen Schule – selbst wenn dies eine lange Anfahrt bedingt – wahrnehmen, wenn an ihrer Schule sich nicht genug andere für Ethik melden. Die Kirchen, die an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligt waren, haben sich wiederholt erfreut darüber gezeigt, dass der Ethikunterricht (bzw. die Drohung damit) den Religionsunterricht „aufwerte“.

Es ist jetzt Ende November, und endlich tauchen erste Zahlen über SchülerInnen, die am Ethikunterricht teilnehmen, in den Medien auf. 

Bei der Austria Presse Agentur: Meiste Schüler im Ethikunterricht in Wien und Vorarlberg

Bei der katholischen Kirche: Schul-Expertin: Religion und Ethik „eingespieltes Duo“ in Vorarlberg

Gemeinsam ist ihnen, dass die Zahlen angeblich vom Wiener „Erzbischöflichem Amt für Schule und Bildung“ stammen. Dieses Amt wirbt auf ihrer Homepage für katholische Privatschulen, Religionsunterricht und kirchliche Veranstaltungen. Warum genau bekommen wir die Zahlen über den Ethikunterricht von dort, und sind diese Zahlen brauchbar?

Beide Meldungen enthalten Prozentsätze. Das bedeutet zwangsläufig, dass eine Zahl (Anzahl der Ethik-SchülerInnen) durch eine andere (Anzahl der SchülerInnen der Schulstufe nach Schultyp und Bundesland) dividiert wurde. Diese Zahlen müssen also existieren, für mindestens zwei Dimensionen, also höchstwahrscheinlich pro Schule. Nur rückt sie das Erzbischöfliche Amt nicht heraus. 

Hallo, Bildungsministerium?

Die Quelle, aus der in einem säkularen Staat die Statistiken zum Ethikunterricht stammen sollten, wäre das Bildungsministerium. Zitat aus der APA-Meldung: „Wie viele … Ethikunterricht gewählt haben und wie viele Religion, konnte man im Bildungsministerium mangels Daten allerdings nicht sagen.“ Was genau macht das Bildungsministerium beruflich? Nächstes Jahr gibt es zweimal so viel Bedarf an Ethik-Stunden, weil die nächste Klasse in die neunte Schulstufe aufsteigt, dann dreimal usw. Wer, wenn nicht das Bildungsministerium ist für Ausbildung und Verteilung der EthiklehrerInnen auf Schulen zuständig? Wie schwer kann es fürs zuständige Ministerium sein, bis Ende September die Anzahl der Anmeldungen pro Schulfach für einen Jahrgang der Mittelschulen in Österreich zu ermitteln? Woran sollen sich LehrerInnen orientieren, wenn sie sich eine Ethik-Weiterbildung überlegen und wissen möchten, ob es in 2, 3, 4 Jahren genug Nachfrage danach gibt? Woran DirektorInnen, die nächstes Jahr Kapazitäten für die Ethikstunden sicherstellen müssen?

Der Zustand, dass das Bildungsministerium die Zahlen über den Ethikunterricht ausgerechnet von einer kirchlichen Stelle bekommt und dann nur eine Jubel-Aussendung auf schwacher Datenlage macht, ist genauso unbefriedigend wie es für Österreich typisch ist.

Wo man es wissen möchte, werden die Zahlen erfaßt: Für Deutschförderklassen und für erlernte Fremdsprachen gibt es nämlich durchaus Daten bei der Statistik Austria. Es gibt also bereits Mechanismen, wie Schulen ihre SchülerInnenzahlen verteilt auf Fächer melden können, und jemand addiert sie zusammen und veröffentlicht sie (auch wenn die Daten bei der Statistik Austria aus Vorjahren stammen). Würde man als Bildungsministerium unabhängig von einer Kirche wissen wollen, wie viele Ethik lernen, gäbe es die Vorgehensweise dafür bereits. Österreichweit wird ein neues „Ersatz-Pflichtfach“ eingeführt und das zuständige Ministerium weiß zweieinhalb Monate später nicht, wie dieses angenommen wird? 

Zahlen, Daten, Fakten

Versuchen wir, aus dieser mangelhaften Datengrundlage etwas Sinnvolles zu machen. Bei der Statistik Austria gibt es glücklicherweise eine Menge andere, hierfür verwendbare Daten, z. B. die SchülerInnen nach Schulstufe und Bundesland.

Aus der Tabelle der SchülerInnenzahlen pro Schulstufe ermitteln wir die Anteile der SchülerInnen am jeweiligen Schultyp in der 9. Schulstufe.

Schultyp9. SchulstufeInsgesamtAnteil 9. Schulstufe
Allgemein bildende Pflichtschulen insg.16.960583.4102,9 %
AHS insgesamt24.912215.95611,5 %
Sonst. allgemein bild. (Statut-)Schulen4)72111.0916,5 %
Berufsbildende mittlere Schulen insges.13.22442.44731,2 %
Sonstige berufsbild. (Statut-)Schulen4628.5235,4 %
Berufsbildende höhere Schulen insges.31.300143.92821,7 %
Summe87.5791.143.1187,7 %
Berechnung der Anteile der SchülerInnen in der 9. Schulstufe

Das sind also 87.579 SchülerInnen, die sich für den Ethikunterricht entscheiden konnten. 

Eine zweite Aufstellung enthält die SchülerInnen nach Schultyp und Bundesland. Mit den im ersten Schritt errechneten Anteilen können wir jene aus der 9. Schulstufe im jeweiligen Bundesland und Schultyp berechnen – unter der Annahme, dass die Verteilung auf Schulstufen in den unterschiedlichen Bundesländern mehr oder weniger gleich ist. Es gibt hier leichte Unterschiede, die 15jährigen sind je nach Bundesland zwischen 0,9 und 1,1 % der Bevölkerung, dies korreliert aber mit den nahen Altersstufen, also der gesamten Zahl der SchülerInnen. Das bedeutet, dass die errechneten Zahlen für die Anzahl der Ethik-SchülerInnen um einige Prozent schwanken könnten. 

Der APA-Meldung entnehmen wir für jedes Bundesland den Prozentsatz der Ethik-SchülerInnen und multiplizieren sie einfach mit der Anzahl der SchülerInnen der 9. Schulstufe im jeweiligen Bundesland.

SchultypBgldKärntenSalzbgStmkTirolVorarlbgWienSumme
Allgemein bildende Pflichtschulen insg.5259723.2503.1461.1052.1861.5359173.32316.960
AHS insgesamt6871.5514.3763.3091.5993.3851.6938897.42324.912
Sonst. allgemein bild. (Statut-)Schulen3)1744104664175378330721
Berufsbildende mittlere Schulen insges.4308562.6272.4219391.7081.0975882.55813.224
Sonstige berufsbild. (Statut-)Schulen2572397140582333100462
Berufsbildende höhere Schulen insges.1.3752.3175.7035.4182.3103.8132.6341.3536.37731.300
Summe3.0585.81116.09914.4316.03511.2257.0193.78820.11287.579
Ethik-SchülerInnen in % (Quelle: APA)17 %26 %36 %29 %26 %16 %25 %44 %45 %31,8 %
Ethik-SchülerInnen pro Bundesland5201.5115.7964.1851.5691.7961.7551.6679.05127.849
Errechnete Zahlen: Ethik-SchülerInnen in der 9. Schulstufe pro Bundesland

Das ergibt also österreichweit ca. 27.849 SchülerInnen, die im Jahr der Einführung Ethik lernen. Das ist im Durchschnitt 31,8 % der SchülerInnen. Die APA-Aussendung bezeichnet die 29 % von Oberösterreich als „überdurchschnittlich“. Dies kann man erhalten, indem man einfach nur die Prozentsätze ohne Gewichtung mit den SchülerInnen-Zahlen, also falsch, vergleicht. Ob das Schulamt, das die Basiszahlen ja hat, nicht prozentrechnen kann oder die APA hier die Zahlen eigenmächtig falsch interpretiert, geht aus der Meldung nicht hervor.

Beide Berichte heben hervor, dass der Anteil der SchülerInnen, die Ethik lernen, in Wien und in Vorarlberg am höchsten ist. Wien ist bekanntlich eine Stadt mit vielen Konfessionsfreien (was generell für urbane Gebiete gilt, die halt in den Bundesländern andere Proportionen der Bevölkerung enthalten). Aber Vorarlberg? Der Anteil der katholischen Bevölkerung ist dort mit ca. 57 % deutlich höher als der Österreich-Durchschnitt (Quellen: Katholische Kirche, Statistik Austria). Sogar höher als im als tief katholisch geltenden Tirol. Die Begründung aus dem Erzbischöfllichen Schulamt, es gäbe dort besonders viele SchülerInnen ohne Bekenntnis, ist für Vorarlberg schwer zu glauben. Hier springt die Vorarlberger Schulamtsleiterin ein und erklärt, dass Vorarlberg eine Vorreiterrolle in den 20 Jahren des Schulversuchs Ethik gespielt hat. Also – unsere Interpretation – ist es dort, wo das Fach bereits flächendeckend bekannt ist, die SchülerInnen also eine informierte Entscheidung treffen konnten, der Anteil derjenigen, die Ethik wählen, besonders hoch. Das Bildungsministerium sollte sich für diese Tatsache interessieren.

Wir mussten hier aufwändig aus den gnädigerweise ausgeworfenen Informationskrümeln die tatsächlichen Zahlen mit einer gewissen Fehlerquote rückrechnen, statt sie aus einer unabhängigen Quelle zu erhalten. Die wenigen Zahlen waren mit langen PR-Erklärungen der Kirche garniert, die sich hier als für den Ethikunterricht zuständige Stelle aufspielt. Jene, die wir im Bildungsministerium dafür bezahlen, dass sie diese Zahlen erheben und objektiv kommunizieren, versagen dabei. 

Beide Veröffentlichungen drücken sich vor der Beantwortung der Frage, wie viele SchülerInnen sich von Religion abgemeldet haben, um Ethik zu wählen, und wie viele vorher schon nicht am Religionsunterricht teilnahmen. Diese Zahlen sind wirklich einfach zu erheben, und für die Planung der Lehraufträge in den nächsten Jahren essenziell. Die katholische Kirche deutet an, ihre Statistiken für den Religionsunterricht zu haben, hält sich aber bedeckt und beschränkt sich auf allgemeine Angaben: „Im katholischen Religionsunterricht merken wir kaum steigende Zahlen in der Abmeldung“. Da alle SchülerInnen der 9. Schulstufe sich für die bereits bekannte Religion oder die neue, unbekannte Ethik entscheiden müssen, wird es wahrscheinlich auch Wieder-Anmeldungen für den Religionsunterricht geben. „Kaum“ steigende Zahlen der Abmeldungen werden durch die Wieder-Anmeldung kaschiert.

Wie üblich werden wir weitere Zahlen wohl häppchenweise, mit Religions-PR geschmückt von der katholischen Kirche bekommen, statt aus dem Bildungsministerium. Der Minister scheint mit diesem Zustand nicht zu unglücklich oder überfordert zu sein. ​

Wir veröffentlichen hier die zusammengeführten Zahlen und die daraus resultierenden Berechnungen samt Quellenangaben, damit sie nachvollziehbar sind.

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